Im Zuge der zurzeit auch in den Vereinigten Staaten kontrovers geführten Debatte um die Netzneutralität hat der Vorsitzende des US-Telekommunikationsregulierers FCC, Tom Wheeler, heute einen Entwurf der Vorschriften vorgestellt, die künftig für die Tätigkeit von Internetprovidern in den USA gelten sollen. Die Unternehmen dürfen danach bezahlte Überholspuren, auch Spezialdienste oder priorisierte Dienste genannt, anbieten, solange dies den Zugang zum offenen Internet nicht „in kommerziell unvernünftiger Weise“ beeinträchtigt. Mit seinem Vorschlag möchte Wheeler nach eigener Auskunft auch einen Dialog über die Frage anstoßen, ob und inwieweit das Internet ein öffentliches Gut ist. In den kommenden 60 Tagen hat die Zivilgesellschaft in den USA nun Gelegenheit, Kritik und Verbesserungsvorschläge zu Wheelers Vorstoß einzubringen.

Auslöser der US-Debatte war ein Streit zwischen dem Video-Dienst Netflix und den Providern Comcast und Verizon. Um ihre eigenen Internet-TV-Angebote attraktiver zu machen, waren die Provider dazu übergegangen, die Daten von Netflix nur verlangsamt an dessen Kunden weiterzuleiten. Wheelers Vorschlag soll diesen Missstand nun beheben. Mit der Einschränkung der „kommerziell unvernünftigen“ Benachteiligung bleibt sein Entwurf allerdings hinter dem aktuellen Stand der Netzneutralitätsdebatte in Europa zurück. Hier hatte das EU-Parlament Mitte April immerhin für eine gesetzliche Regelung gestimmt, die jegliche Verlangsamung des offenen Internet zugunsten von Spezialdiensten strikt verbietet. Jedoch lässt selbst der vom EP beschlossene Text weiterhin Schlupflöcher für die Auslagerung von Diensten des offenen Internet auf kostenpflichtige Überholspuren. Bevor die europäische Regelung in Kraft treten kann, muss sie noch den Ministerrat passieren. Nachbesserungen sind daher weiterhin möglich und zudem dringend geboten.

„Der Netflix-Streit liefert einen Vorgeschmack auf ein Zwei-Klassen-Netz, wie es die Provider auch in Europa anstreben. Für die Bundesregierung ist das Geschehen in den USA ein Weckruf, die hiesigen Errungenschaften zur Netzneutralität im Ministerrat zu verteidigen und auf eine schärfere Definition der Spezialdienste zu drängen. Andernfalls drohen nicht nur Wettbewerbsnachteile und Markteintrittbarrieren für Start-Ups und nichtkommerzielle Angebote, sondern auch ein Tarifdschungel mit zahllosen kostenpflichtigen Zugangs- und Servicepaketen. Wenn zudem in naher Zukunft die Bandbreiten knapp werden, wird es auch ohne Drosselungen allein durch das Best-Effort-Prinzip zu Engpässen im offenen Internet kommen. Finanzstarke Anbieter könnten dann auf Überholspuren ausweichen, um sich Vorteile gegenüber der Konkurrenz zu verschaffen. In einer zunehmend digitalisierten Gesellschaft muss die Bundesregierung den Breitbandausbau deshalb endlich als öffentliche Infrastrukturaufgabe begreifen und mit Nachdruck vorantreiben. Dies allein den Telekommunikationsunternehmen zu überlassen, die primär wirtschaftliche Eigeninteressen verfolgen und die Netzneutralität möglichst abschaffen wollen, hieße den Bock zum Gärtner zu machen.“, erklärt Alexander Sander, Geschäftsführer des Vereins Digitale Gesellschaft.

In der Koalitionsvereinbarung wird der Breitbandausbau zwar als wichtiges Vorhaben anerkannt, konkrete Investitionen sind hingegen nicht vorgesehen. Stattdessen sollen die Telekommunikationsprovider durch die Schaffung eines „investitionsfreundlichen Umfelds“ dazu motiviert werden, Mittel für den Breitbandausbau in die Hand zu nehmen. Zu diesem Zweck fordern aber gerade diese Unternehmen seit Jahren die Einführung von Spezialdiensten und Lockerungen bei der Netzneutralität.

Obwohl die derzeitige Entwicklung auf europäischer Ebene den Forderungen der Providerlobby eher zuwiderläuft, könnten die bislang erreichten Fortschritte durch das zwischen der EU und den USA geplante Freihandelsabkommen TTIP schnell wieder zunichte gemacht werden. Das Verhandlungsmandat der Kommission umfasst nämlich ausdrücklich auch die Pflichten von Zugangsprovidern. Kommt es zum Abschluss von TTIP, so könnten multinationale Provider daher die mühsam erkämpfte EU-Gesetzgebung zur Netzneutralität mit Hinweis auf die laxeren US-Regeln im Wege von Schiedsgerichtsverfahren zum Investorenschutz beseitigen.

Dazu fordert Sander: „Die Bundesregierung muss die europäischen Fortschritte bei der Netzneutralität nun aktiv verteidigen anstatt tatenlos dabei zuzusehen, wie das Erreichte zur Verfügungsmasse multinationaler Konzerne gemacht wird. Sie darf daher nicht einfach den Ausgang der TTIP-Verhandlungen abwarten, sondern muss jetzt ihren Einfluss im Ministerrat nutzen und mit Nachdruck auf eine Aussetzung der Verhandlungen hinwirken. Ein Freihandelsabkommen, das den Kern eines freien und offenen Internet in Europa zur Disposition stellt, kann und darf es nicht geben.“