Am heutigen Vormittag fand vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) die mündliche Verhandlung im Verfahren um das geplante Fluggastdatenabkommen zwischen der EU und Kanada statt. Das Europäische Parlament (EP) hatte den Entwurf der Übereinkunft im November 2014 an den Gerichtshof überwiesen, um die Vereinbarkeit mit dem EU-Recht überprüfen zu lassen.

Im April desselben Jahres hatte der EuGH Maßnahmen der anlasslosen Massenüberwachung mit seinem Urteil zur Vorratsdatenspeicherung von Kommunikationsdaten eine deutliche Absage erteilt. Vor diesem Hintergrund bezweifelte damals die Mehrheit der Abgeordneten, dass das PNR-Abkommen im Einklang mit den EU-Grundrechten auf Privatsphäre und den Schutz personenbezogener Daten stehe. Zudem warfen die Parlamentarier die Frage auf, welche Bestimmung im Recht der EU überhaupt als taugliche Rechtsgrundlage für die PNR-Vereinbarung mit Kanada herhalten könne.

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Juristischer Dienst des EP: Grundrechte und Verhältnismäßigkeit verletzt

Bei der heutigen Verhandlung trugen alle an dem Abkommen beteiligten Stellen der EU sowie die Vertreter einiger Mitgliedstaaten ihre Standpunkte vor. Dabei äußerte sich der juristische Dienst des EP kritisch zu der Übereinkunft und stellte die Vereinbarkeit mit den EU-Grundrechten in Frage. Besonders bemängelte die Vertreterin des EP den Umstand, dass das Abkommen keine ausreichenden Rechtsschutzmöglichkeiten gegen Datenschutzverstöße für Bürgerinnen und Bürger der EU vorsieht und eine unabhängige Aufsicht über die Datenverarbeitung vermissen lässt.

Der juristische Dienst sah aufgrund des Umfangs und der Art der Datenverwendung außerdem den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verletzt. So sieht das Abkommen nicht nur vor, dass die PNR-Daten übermittelt, gespeichert und an Drittstaaten, etwa die USA, weitergegeben werden dürfen; vielmehr sollen sie auch durch automatisiertes Profiling ständig systematisch analysiert und mit anderen Datenbanken abgeglichen werden.

Juristischer Dienst des Ministerrats: Leere Vorwürfe und vage Versprechungen

Der juristische Dienst des Ministerrates versuchte hingegen, das Abkommen mit teils abenteuerlichen Argumenten zu verteidigen. So wies die Vertreterin des Rates etwa darauf hin, dass das EP keine Probleme gehabt habe, PNR-Abkommen mit den USA und Australien durchzuwinken. Unerwähnt ließ sie dabei, dass erst das Urteil des EuGH zur Vorratsdatenspeicherung vom April 2014 die Abgeordneten veranlasst hatte, dem Gerichtshof auch das geplante PNR-Abkommen mit Kanada vorzulegen. Die Abkommen mit den USA und Australien hingegen wurden bereits 2012 geschlossen.

Ebenso wenig gelang es der Vertreterin des Rates, den vom Parlament aufgeworfenen Bedenken gegen die fehlenden Rechtsschutzmöglichkeiten entgegenzutreten. Sie begnügte sich lediglich mit dem vagen Versprechen dass Kanada nun neue Gesetze erlassen werde, die entsprechende Rechtsbehelfe auch für Europäerinnen und Europäer vorsehen. Woher sie das weiß und wie genau diese Rechtsbehelfe aussehen könnten, behielt sie für sich.

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EU-Kommission: Lügen für mehr Überwachung

Ähnlich desaströs fiel auch der Auftritt der EU-Kommission aus, die das Abkommen mit Kanada ausgehandelt hatte. Deren Vertreterinnen gaben sich große Mühe, die Anwendbarkeit des EuGH-Urteils zur Vorratsdatenspeicherung von Kommunikationsdaten zu bestreiten. Dabei schreckten sie selbst vor offenkundigen Lügen nicht zurück. So wiesen sie etwa darauf hin, dass die PNR-Daten nach 30 Tagen „anonymisiert“ würden und deshalb gar keine personenbezogenen Daten mehr vorlägen. Das ist natürlich vollkommen unrichtig, da die Daten lediglich pseudonymisiert werden und jederzeit wieder lesbar gemacht werden können.

Auch in Bezug auf die Rechtsbehelfe und eine unabhängige Aufsicht über die Datenverarbeitung sah die Kommission keine Probleme, da sich Betroffene ja an die europäischen Datenschutzbehörden wenden könnten. Dies genügt in keiner Hinsicht den strengen Anforderungen an Rechtsschutz und Aufsicht, die der EuGH im Rahmen seiner „Safe Harbor“ Entscheidung bei Datenübermittlungen an Drittstaaten aufgestellt hatte.

Mitgliedstaaten: Esel, Heuhaufen, gefährliche Menschen und Anekdoten

Auch die Sprecher der Mitgliedstaaten gaben sich alle Mühe, für das Abkommen zu argumentieren. Teils kam es dabei zu erheiternden Szenen, etwa als der Vertreter Estlands die etwas kryptisch anmutende Frage einwarf, ob ein Esel verhungern würde, wenn er sich zwischen zwei Heuhaufen entscheiden müsste. Großen Wert legten die Mitgliedstaaten auch auf die Feststellung, das Abkommen sei erforderlich, um „gefährliche Menschen zu verfolgen“ (Estland). Irland betonte zudem, dass bereits die vom Parlament angeregte rechtliche Überprüfung des Abkommens die internationale Zusammenarbeit bedrohe.

In den Beiträgen der Mitgliedstaaten nahm außerdem die Frage nach dem Nutzen und der Verhältnismäßigkeit des PNR-Abkommens großen Raum ein. Wie zu erwarten war, wurden dazu lediglich Anekdoten vorgetragen, aber keinerlei konkrete Beweise präsentiert. Stattdessen wiederholte insbesondere der Sprecher Frankreichs geradezu mantrahaft, dass die Datenspeicherung bei der Bekämpfung von Terrorismus und schwerer Kriminalität nützlich sein könnte.

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Europäischer Datenschutzbeautragter: PNR weckt Begehrlichkeiten nach sensiblen Daten

Ein gutes Gegengewicht bildete der Vortrag von Anna Buchta, Vertreterin des Europäischen Datenschutzbeauftragten. Sie wies zunächst darauf hin, dass auch andere Staaten wie etwa Saudi Arabien und Russland Interesse an den PNR-Daten und dem Abschluss entsprechender Abkommen mit der EU hätten. Vereinbarungen wie mit Kanada wecken demnach auch bei anderen Staaten Begehrlichkeiten, so dass der Datenaustausch schnell ins Uferlose wachsen könnte.

Wegen des sensiblen Charakters der betroffenen Informationen (z.B. Religionszugehörigkeit aufgrund der Essenspräferenzen) sei die Speicherung der PNR-Daten höchst intrusiv, so Buchta. Dies gelte umso mehr, als dass die Daten zur Erstellung von Persönlichkeitsprofilen und zur automatisierten Erkennung von Verhaltensmustern verwendet würden. Sehr deutlich trat Buchta auch der Einschätzung der Kommission entgegen, dass Kanada über eine funktionierende unabhängige Datenschutzaufsicht verfüge.

Berichterstattender Richter: Kritische Fragen und viele Probleme

An die Vorträge der verschiedenen EU-Institutionen und Mitgliedstaaten schloss sich eine Fragerunde durch den berichterstattenden Richter Thomas von Danwitz an. Bereits die Art der Fragestellung ließ erfreulicherweise klar die kritische Haltung des Gerichts zum geplanten Abkommen erkennen. So wies der Richter insbesondere die Kommission auf zahlreiche Unschärfen und Unklarheiten im Abkommen hin und monierte, dass die Datenschutzgarantien für Bürgerinnen und Bürger der EU nicht Teil des eigentlichen Vertragstextes sind, sondern sich nur im Anhang finden. Von Danwitz störte sich außerdem daran, dass das Abkommen das Ausmaß, in dem die Daten mit kanadischen Datenbanken abgeglichen werden können, in keiner Weise limitiert.

Ebenso kritisch äußerte sich von Danwitz zu dem Umstand, dass das Abkommen es nur zulasse, die Zulässigkeit von Datenübermittlungen nachträglich zu überprüfen. Dies halte er mit Blick auf die Durchsetzung der Rechte auf Privatsphäre und den Schutz personenbezogener Daten für besorgniserregend. Auch die Tatsache, dass die Daten einer Person sogar nach ihrer Ausreise aus Kanada dort noch bis zu 5 Jahre gespeichert bleiben, bezeichnete von Danwitz als problematisch. In diesem Zusammenhang zeigte sich der Richter auch ein wenig verärgert über die Falschbehauptung der Kommission, dass die Daten nach 30 Tagen anonymisiert würden. Entsprechend belehrte er sie darüber, dass die Daten tatsächlich nur pseudonymisiert werden. Um die Bedeutsamkeit des Unterschieds zwischen Anonymisierung und Psedonymisierung zu verdeutlichen, verwies von Danwitz darüber hinaus auch auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, wonach die Speicherung von personenbezogenen Daten eine Stigmatisierung der betroffenen Person zur Folge haben kann.

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Generalanwalt und andere Richter: Zu wenig Schutzmechanismen, zu viel Unklarheit

Ähnlich kritisch fielen auch die anschließenden Nachfragen des Generalanwalts beim EuGH, Paolo Mengozzi, sowie weiterer Richter am EuGH aus. So hielt Mengozzi der EU-Kommission vor, es sei absurd, dass das Abkommen zwar regelt, unter welchen Voraussetzungen kanadische Behörden die PNR-Daten an Drittstaaten weitergeben dürfen, jedoch keine Vorgaben für die weitere Verwendung der Daten durch Drittstaaten enthält. Mengozzi wies außerdem auf verschiedene Unklarheiten in dem Abkommen hin; so sei noch nicht einmal klar, ob sich daraus für die Airlines überhaupt eine Verpflichtung zur Übermittlung der PNR-Daten ergebe.

Auch die Fragen der Richter ließen im Weiteren erhebliche Zweifel an der Vereinbarkeit des Abkommens mit den Vorgaben des EU-Rechts erkennen. So bemängelten sie etwa, dass die Regelungen offen lassen, welche Angaben als sensible Daten gelten und wie kanadische Behörden ihren Schutz sicherzustellen haben.

Resummee: Das PNR-Abkommen mit Kanada steht auf hauchdünnem Eis

Die überaus lange Verhandlungsdauer von mehr als fünf Stunden und die zahlreichen Nachfragen der Richter und des Generalanwalts lassen klar erkennen, dass der EuGH das PNR-Abkommen mit Kanada als äußerst problematisch bewertet. Sowohl die mangelnde Bestimmtheit des Textes als auch die überlange Speicherdauer, die bloße Pseudonymisierung der Daten und die fehlenden Datenschutzvorkehrungen wie effektive Rechtsbehelfe und unabhängige Aufsicht wurden von Richtern und Generalanwalt gerügt. Auch über die einschlägige Rechtsgrundlage für das Abkommen bestand bis zum Schluss der Verhandlung keine Einigkeit.

Die Chancen stehen daher gut, dass der EuGH das Abkommen wegen Verstoß gegen EU-Grundrechte verwerfen wird. Ende Juni wird der Generalanwalt sein Schlussplädoyer präsentieren, einige Wochen später folgt das eigentliche Gutachten des EuGH. Bis zu diesem Zeitpunkt sollte das EU-Parlament nicht nur mit der Entscheidung über das PNR-Abkommen mit Kanada warten. Wegen der Signalwirkung der EuGH-Entscheidung sind die Abgeordneten gut beraten, auch die Abstimmung über die Richtlinie für ein EU-weites PNR-System auszusetzen, bis sie Klarheit über die rechtliche Bewertung derartiger Massenspeicherungen personenbezogener Daten erhalten haben. Ansonsten laufen sie Gefahr, eine grundrechtswidrige Richtlinie auf den Weg zu bringen, und dem Vertrauen in ihre Fähigkeit, die Rechte der Bürgerinnen und Bürger Europas zu verteidigen, schweren Schaden zuzufügen.

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Unser Mitglied Ralf Bendrath hat live aus dem Gerichtssaal getwittert. Auf seinem Twitteraccount könnt Ihr seine Berichterstattung nachlesen.

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