Seit es in den Trilog-Verhandlungen um eine unionsrechtliche Verankerung der Netzneutralität Ende Juni zu einer Einigung zwischen Europäischem Parlament und EU-Ministerrat gekommen war, wurde viel um die Interpretation des Verhandlungsergebnisses gestritten. Seit Mitte vergangener Woche liegt der abgestimmte Text vor, so dass wir unserer ersten Bewertung nun eine eingehende Analyse folgen lassen. Vorweg: die Beurteilung fällt leider auch jetzt nicht positiver aus.
Der vorliegende Text zur Netzneutralität ist ein klassisches Beispiel für das, was im Englischen „design by committee“ genannt wird: ein unbrauchbarer Kompromiss, der auf einem Mangel an einer gemeinsamen Vorstellung beruht. Würde der Text in der jetzigen Fassung zum Gesetz, so würde er in den entscheidenden Punkten neue Rechtsunsicherheiten schaffen. Der EU-Gesetzgeber würde sich damit aus seiner Verantwortung stehlen, klare und unmissverständliche Regeln zu setzen und stattdessen die Probleme, zu deren Lösung er offenbar nicht in der Lage ist, auf die Gerichte verschieben.
Damit würde die Legislative vor allem den großen Telekommunikationsunternehmen und Netzwerkbetreibern einen Gefallen tun, da diese über die nötigen Mittel verfügen, um langwierige Verfahren durchzustehen und sich die gewünschte Auslegung auf dem Rechtsweg zu erstreiten. Schaden würde er damit hingegen den Rechten und Interessen von Verbraucherinnen und Verbrauchern sowie der europäischen Online-Wirtschaft zufügen, da eine echte Sicherung der Netzneutralität normenklare und eindeutige Regeln braucht.
Das Parlament muss daher die bislang noch bestehenden Unklarheiten beseitigen und durch explizite Regelungen ersetzen. Dazu gehört ein ausdrückliches Verbot wettbewerbsfeindlicher Praktiken wie Zero-Rating ebenso wie eine Verschärfung der Kriterien für optimierte Dienste und für Maßnahmen des Verkehrsmanagements. Die entscheidenden Regelungen sollten die Abgeordneten zudem in den eigentlichen Artikeln und nicht lediglich in den Erwägungsgründen unterbringen, um ihnen das nötige Gewicht zu verleihen. Nur so wird eine echte Absicherung der Netzneutralität in Europa gelingen.
1. Diskriminierungsverbot / Verkehrsmanagement
Auch wenn der Begriff Netzneutralität in dem Text nicht an einer einzigen Stelle vorkommt, so finden sich die Kerngedanken des Prinzips durchaus punktuell darin wieder. Endnutzer haben danach zunächst das Recht, auf beliebige Inhalte, Dienste und Anwendungen im offenen Internet zuzugreifen. Die Netzwerkbetreiber müssen außerdem sämtliche Inhalte, Dienste und Anwendungen im offenen Internet grundsätzlich gleich behandeln.
a. Datenpriorisierung und Rechtsunsicherheit
Dieses Gleichbehandlungsgebot wird jedoch durch die nachfolgenden Regelungen umgehend relativiert. Danach dürfen die Netzwerkbetreiber unter bestimmten Bedingungen „vernünftige“ Maßnahmen zum Verkehrsmanagement einsetzen. Sie dürfen also in den Datenverkehr eingreifen, um bestimmte Daten bevorzugt zu behandeln und schneller zu transportieren als andere. Als „vernünftig“ gelten die Maßnahmen zum Verkehrsmanagement dem Text zufolge nur dann, wenn sie „transparent, nicht diskriminierend und angemessen“ sind und außerdem nicht auf „kommerziellen Überlegungen“ basieren. Vielmehr dürfen sie ausschließlich anhand der „objektiv unterschiedlichen technischen Qualität der Diensterfordernisse spezifischer Verkehrskategorien“ vorgenommen werden.
Mit dieser sehr sperrigen Formulierung wird die Priorisierung zeitkritischer Dienste wie HD-Videostreaming und Online-Gaming vor weniger zeitkritischen Diensten wie Email oder Blogs allgemein ermöglicht. Das Verbot, die Maßnahmen zum Verkehrsmanagement auf „kommerzielle Überlegungen“ zu stützen, ist in diesem Zusammenhang nicht mehr als ein Feigenblatt. Schließlich ist völlig unklar, was mit dem Begriff überhaupt gemeint sein soll. Auch klärt der Text nicht, wie es sich auswirkt, wenn ein Netzbetreiber die Maßnahmen sowohl aus kommerziellen Überlegungen als auch aufgrund der „objektiv unterschiedlichen Qualität der Diensterfordernisse spezifischer Verkehrskategorien“ ergreift. So bleibt fraglich, ob etwa ein Provider, der die von ihm angebotenen Internetzugänge durch die Priorisierung von Videostreaming und Online-Gaming für bestimmte Kundengruppen besonders attraktiv macht, nun zulässig oder unzulässig handelt.
Diese Stelle ist durchaus symptomatisch für den gesamten Kompromiss, auf den sich Rat und Parlament geeinigt haben: die entscheidenden Fragen in Sachen Netzneutralität werden nicht eindeutig geregelt, sondern durch unbestimmte Rechtsbegriffe wie „kommerzielle Überlegungen“ und „objektiv unterschiedliche Qualität der Diensterfordernisse spezifischer Verkehrskategorien“ auf die Gerichte abgeschoben. Das Ergebnis des Kompromisses besteht in vielen Punkten daher zunächst einmal in neuen Rechtsunsicherheiten.
b. Blocken, drosseln, beschränken nur aus mehr oder weniger guten Gründen
Weitere Einschränkungen erfährt das grundsätzliche Gleichbehandlungsgebot außerdem durch einen Absatz, der es den Netzwerkbetreibern erlaubt, bestimmte Inhalte, Anwendungen und Dienste zu blocken, zu verlangsamen, zu verändern, zu beschränken und herabzustufen, solange und soweit dies aus abschließend aufgezählten Gründen notwendig ist. Zu diesen Gründen gehören neben der Verhinderung von Netzwerküberlastungen und der Wahrung der Netzwerksicherheit und -integrität auch die Einhaltung von Verpflichtungen, die sich aus dem Unionsrecht oder dem Recht der Mitgliedstaaten ergeben.
Während es durchaus nachvollziehbar und sinnvoll ist, Verkehrsmanagement zuzulassen, um die Funktionsfähigkeit des Netzwerks zu gewährleisten, wird mit der Bezugnahme auf das Recht der Union und der Mitgliedstaaten eine Hintertür für Netzsperren offen gehalten. Positiv hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang allerdings, dass sachfremde Elemente wie beispielsweise Spamschutz und Kindersicherungen nicht mehr als Gründe für Eingriffe in den Datenverkehr aufgeführt sind.
2. Spezialdienste
Der mittlerweile wohl zu negativ konnotierte Begriff der Spezialdienste kommt im Kompromisstext nicht mehr vor. Stattdessen wird den Netzwerkbetreibern allgemein erlaubt, andere als Internetzugangsdienste anzubieten, die für bestimmte Inhalte, Anwendungen und Dienste optimiert sind. Voraussetzung dafür ist zunächst, dass „die Optimierung notwendig ist, um den Anforderungen der Inhalte, Anwendungen und Dienste an ein bestimmtes Qualitätsmaß zu genügen“.
Obwohl das Notwendigkeitskriterium nach einer Hürde für das Angebot optimierter Inhalte, Dienste und Anwendungen klingt, dürfte es faktisch funktionslos sein. Es wird nämlich nicht definiert, wer in welcher Weise die Anforderungen an ein bestimmtes Qualitätsmaß festlegt. Diensteanbieter und Netzwerkbetreiber könnten daher beliebige Qualitätsanforderungen für einen Dienst aufstellen und mit der Begründung, diese Qualität sei über das Best-Effort-Internet nicht gewährleistet, auf eine bezahlte Überholspur ausweichen. Auf diese Weise könnten auch bereits etablierte Dienste des Best-Effort-Internet leicht auf kostenpflichtige Sonderzugänge ausgelagert werden – mit all den negativen Folgen, die das für die Wettbewerbsfähigkeit von Start-Ups und die Innovationskraft des Netzes hätte.
Daran ändern auch die weiteren Anforderungen, die für das Angebot solcher optimierter Dienste gelten, nichts. Netzwerkbetreiber dürfen sie nur dann vorhalten, wenn die Netzwerkkapazität ausreicht, um sie zusätzlich zu Internetzugangsdiensten anzubieten, sie nicht als Ersatz für Internetzugangsdienste nutzbar sind und nicht der Verfügbarkeit oder generellen Qualität von Internetzugangsdiensten schaden. Statt eines klaren Verbots von Eingriffen in Internetzugangsdienste zugunsten optimierter Dienste findet sich hier also nur die Verpflichtung, ausreichende Netzwerkkapazitäten bereitzuhalten. Zudem darf das Angebot optimierter Dienste nur der „generellen“ Qualität von Internetzugangsdiensten nicht schaden – der konkreten Qualität aber offenbar sehr wohl. Wo die Grenze zwischen einer konkreten und einer generellen Qualitätsbeeinträchtigung liegt, bleibt fraglich. Auch mit dieser Formulierung werden daher neue Rechtsunsicherheiten begründet, die im Zweifel erst in langen, kostspieligen Gerichtsverfahren beseitigt werden können.
Vergeblich sucht man im Text übrigens nach einem Kriterium wie dem Allgemeinwohlbezug, von dem Digitalkommissar Günther Oettinger noch bei der Vorstellung des Kompromisses sprach. Wie er dieses Kriterium in den Text hineinliest, wäre interessant zu erfahren, bleibt bislang jedoch vollkommen schleierhaft.
3. Zero-Rating
Ob wettbewerbsfeindliche Praktiken wie das Zero Rating (auch Preisdiskriminierung genannt) nach dem Text zulässig sind, ist ebenfalls fraglich. Eindeutig verboten werden sie jedenfalls nicht. Netzwerkbetreibern wird in dem Kompromisstext ausdrücklich erlaubt, mit Endkunden Vereinbarungen über Preise, Datenvolumen oder Geschwindigkeiten zu treffen. Auch andere kommerzielle Praktiken werden explizit zugelassen, solange sie nicht das grundsätzliche Recht der Endnutzer auf Zugang zu beliebigen Inhalten, Diensten und Anwendungen beeinträchtigen.
Beim Zero-Rating haben Nutzerinnen und Nutzer selbst dann noch unbeschränkten Zugriff auf bestimmte Inhalte, Dienste oder Anwendungen, wenn ihr Datenvolumen bereits aufgebraucht ist. Der betreffende Dienst verschafft sich damit einen Wettbewerbsvorteil gegenüber anderen Diensten, die nach Erreichen des Datenlimits nicht mehr über diesen Zugang erreicht werden können. Das schadet vor allem Start-Ups, die nicht in der Lage sind, die Kosten für das Zero-Rating zu tragen.
Netzwerkbetreiber könnten sich auf den Standpunkt stellen, dass Zero-Rating nicht das Recht der Endnutzer auf Zugang zu beliebigen Inhalten, Diensten und Anwendungen beeinträchtigt, sondern ihnen im Gegenteil zusätzliche Zugriffsmöglichkeiten eröffnet, wenn das zulässigerweise vereinbarte Datenvolumen erschöpft ist. Da der Kompromisstext keine eindeutigen Aussagen zum Zero-Rating enthält, wird auch diese Frage erst durch Gerichtsverfahren erschöpfend geklärt werden.