Edward Snowden hat in seiner schriftlichen Aussage vor dem Innenausschuss des Europaparlaments am vergangenen Freitag schwere Vorwürfe gegen die Verfassungsorgane der Bundesrepublik erhoben. Nach seinen Schilderungen hat Deutschland das G10 Gesetz, in dem die Telekommunikationsüberwachung durch Nachrichtendienste geregelt wird, auf Druck und nach Maßgabe der NSA geändert. Er liefert damit Hinweise auf eine verdeckte Unterwanderung der Demokratie in Deutschland in bisher unbekanntem Ausmaß.

Einflussnahme auf die Exekutive
Über Einflussnahmen ausländischer Dienste auf die Exekutivpraxis deutscher Behörden wie etwa des BND, also die Art und Weise der Anwendung des G10 Gesetzes, ist in den vergangenen Monaten vereinzelt berichtet worden. So enthüllte das ARD Magazin Fakt, dass Mitarbeiter des britischen GCHQ dem BND mit juristischer Beratung zur Seite standen, um bei einer möglichst flexiblen Auslegung des G10 Gesetzes behilflich zu sein. Um dessen Vorgaben zu genügen, definierte man laut ARD-Beitrag einfach den gesamten Internetverkehr in Deutschland als Kommunikation mit dem Ausland, damit der BND die Datenströme im Rahmen der sogenannten strategischen Fernmeldekontrolle überwachen könne. Der Historiker Josef Foschepoth berichtete außerdem über geheimgehaltene Vereinbarungen zwischen den Regierungen Deutschlands und der Alliierten, mit denen US-amerikanischen Geheimdiensten weitgehende Überwachungsbefugnisse auf deutschem Boden einräumt würden.

Demokratieschutz im Grundgesetz: Wesentlichkeit und Gewaltenteilung
Bereits derartige Auswüchse wären in rechtsstaatlicher Hinsicht skandalös, ließen sie doch ein Staatsverständnis erkennen, in dem Grundrechte, Privatsphäre und das Votum des Souveräns nur noch als kernlose Hülle, als bloße scheindemokratische Fassade existieren. Die Selbstheilungskräfte der Verfassung könnten jedoch noch ausreichen, um solchen Fehlentwicklungen entgegenzuwirken. Zum Schutz einer freiheitlichen Gesellschaft enthält das Grundgesetz nämlich zahlreiche Vorgaben.

Dem Wesentlichkeitsgrundsatz zufolge müssen Grundrechtseingriffe stets auf einem verfassungsgemäßen Parlamentsgesetz beruhen. Ohne eine entsprechende Grundlage können Vereinbarungen der Regierung oder die Gesetzesinterpretation durch Nachrichtendienste allein Verkürzungen von Grundrechten daher niemals rechtfertigen. Außerdem sollen sich Exekutive, Legislative und Judikative nach dem Gewaltenteilungsprinzip gegenseitig in ihrer Machtausübung hemmen und kontrollieren, um Missbrauch ihrer Befugnisse zu verhindern und die Verfassungstreue der Organe zu gewährleisten. Vereinbarungen und Praktiken der Exekutive, also der Regierung und der Behörden, unterliegen folglich der Überprüfung durch Gerichte und Bundestag. Im Falle der Telekommunikationsüberwachung durch Nachrichtendienste gilt das allerdings nur eingeschränkt, da Artikel 10 des Grundgesetzes vorsieht, dass an die Stelle einer gerichtlichen Nachprüfung eine Kontrolle durch die G10-Kommission des Bundestages tritt. Das Parlament hat daneben jedoch weiterhin die Möglichkeit, Vorgänge rund um die Überwachungstätigkeit der Nachrichtendienste durch einen Untersuchungsausschuss aufzuklären und ihr danach durch strenge rechtliche Vorgaben einen Riegel vorzuschieben.

Snowden: NSA nahm auch auf Legislative Einfluss
Unabhängig von der Frage, ob die Selbstregulierungsmechanismen des Grundgesetzes eigentlich noch greifen, wenn die Mitglieder des Bundestags zu rund 80% dem Lager der Regierungsparteien angehören, so liefert Snowdens Aussage jedenfalls besorgniserregende Anhaltspunkte dafür, dass und wie ausländische Regierungen und Behörden in Kooperation mit deutschen Staatsorganen demokratische und rechtsstaatliche Prozesse unterlaufen und weitestgehend wirkungslos machen. Indem er ausdrücklich die Änderung des G10 Gesetzes anspricht, weist Snowden darauf hin, dass die Einflussnahme ausländischer Regierungen und Dienste nicht nur auf die Ausführung, sondern bereits auf die Schaffung und Gestaltung von Gesetzen abziele. Das Vorgehen würde sich damit gegen die Kernkompetenz des Parlaments als das am stärksten demokratisch legitimierte Verfassungsorgan richten. Schenkt man Snowdens auch seitens seines früheren Arbeitgebers inhaltlich nie bestrittenen Äußerungen Glauben, so hat der Verfassungsskandal rund um die nachrichtendienstliche Überwachungstätigkeit nunmehr Ausmaße erreicht, welche die Selbstheilungskräfte des Grundgesetzes bei Weitem übersteigen und ein überaus zweifelhaftes Licht auf die Souveränität der Bundesrepublik und die Verfassungstreue deutscher Staatsorgane werfen. Dass auf deutschem Boden deutsches Recht gelte, wird spätestens dann zur Leerformel, wenn Nachrichtendienste schon bei der Rechtssetzung die Finger im Spiel haben.

Nun im Blick: Änderung des G10 Gesetzes von 2009
Tatsächlich wurden seit der grundlegenden Neufassung im Jahr 2001 zahlreiche Änderungen des G10 Gesetzes in den Bundestag eingebracht und beschlossen. Eine der umfangreichsten Novellen nahm die damalige Schwarz-Rote Koalition Ende Juli 2009 vor, als sie die als strategische Fernmeldekontrolle bezeichnete Massenüberwachung des Internetverkehrs (§ 5 G10) neu regelte und die Befugnis zur Übermittlung der daraus gewonnenen Daten an ausländische Stellen (§7a G10) einfügte. Auf diese Vorschriften beruft sich der BND etwa bei der Überwachung des Datenstroms am Knotenpunkt DE-CIX in Frankfurt und bei der Weitergabe von Informationen beispielsweise an die NSA.

Neben der exekutiven Zusammenarbeit deutscher und ausländischer Nachrichtendienste bedarf daher gerade diese Gesetzesänderung vor dem Hintergrund von Snowdens Aussage dringend näherer Untersuchung und Aufklärung. Offen gelassen hat Snowden, wie der Geheimdienst-Lobbyismus ausländischer Stellen bei Gesetzgebungsverfahren in Deutschland im Detail funktioniert. Denkbar sind sowohl ein Ansetzen in der Entwurfsphase der Gesetzesänderungen, also auf Arbeitsebene der zuständigen Ministerien beziehungsweise unmittelbar bei Mitgliedern der Bundesregierung, als auch eine Einflussnahme auf das Abstimmungsverhalten der Parlamentarier selbst.

Konsequenzen: Untersuchungsausschuss, Aufklärung, Update
Bundestag und Bundesregierung sind deshalb nun beide in der Pflicht, die in Snowdens Aussage enthaltenen Vorwürfe rückhaltlos aufzuklären und in der Folge die notwendigen Konsequenzen zu ziehen. Ein Untersuchungsausschuss, der sowohl die Überwachungspraktiken von NSA und GCHQ als auch die Verwicklung deutscher Behörden und Verfassungsorgane in die Überwachungsaffäre zum Gegenstand hat, ist ebenso überfällig wie eine vollständige Offenlegung jeglicher Verwaltungsvereinbarungen zur Arbeit ausländischer Nachrichtendienste in Deutschland. Stellen sich die Vorwürfe als berechtigt heraus, so würde dies nicht nur die Regierung Merkel unhaltbar machen. Es würde auch Übereinkünften zur Datenübermittlung wie Safe Harbour, PNR und SWIFT die Legitimationsgrundlage entziehen, die Verhandlungen über ein „No Spy“ Abkommen ad absurdum führen und ein fundamentales demokratisches Systemupdate, angefangen bei einer tiefgreifenden Verbesserung der Geheimdienstkontrolle, erforderlich machen. Dem Vertrauen der Bevölkerung in den Rechtsstaat würde das gut tun.