Der folgende Text erschien ursprünglich als EDRigram in englischer Sprache auf der Seite unserer Dachorganisation European Digital Rights (EDRi).

Seit dem Inkrafttreten der Richtlinie zum Schutz der Rechte des geistigen Eigentums (kurz IPRED) im Jahr 2004 und ihrer anschließenden Umsetzung in die nationalen Regelungen der Mitgliedsstaaten haben sich massenhafte Abmahnschreiben insbesondere in Deutschland zu einem lukrativen Geschäftsmodell für die Content-Industrie, Anti-Piracyfirmen und ihre Anwälte entwickelt. Aus der Perspektive tausender Internet-Nutzer sind sie ein Ärgernis und eine Gefahr für den sorglosen und unbefangenen Umgang mit dem Netz.

Um ihre Aufmerksamkeit auf die zweifelhafte Praxis der Abmahnschreiben in Deutschland zu lenken, hat der Digitale Gesellschaft e.V. im April 2013 einen Beschwerdebrief an die EU-Kommission gesandt. Darin wies die DigiGes darauf hin, dass die Umsetzung der IPRED-Richtlinie in Deutschland zu einer Situation geführt hat, in der es Rechteinhabern gestattet ist, personenbezogene Nutzerdaten auf Basis einer IP-Adresse direkt beim Provider in Erfahrung zu bringen. Alles was sie dafür brauchen, ist die IP-Adresse des mutmaßlichen Rechtsverletzers sowie eine gerichtliche Anordnung auf Herausgabe der Daten. Während diese Regelung ursprünglich dafür gedacht war, die Durchsetzung von Schadens- und Unterlassungsansprüchen zu vereinfachen, kam es nach und nach aber zu einer Automatisierung des Prozesses. Die Anträge der Rechteinhaber auf Herausgabe der Nutzerdaten umfassten üblicherweise zwischen 15 und 3.500 IP-Adressen pro einzelner Anordnung. In einem einzelnen Fall im Oktober 2009 wurde gar ein Spitzenwert von sage und schreibe 11.000 Adressen erreicht. In Anbetracht der Tatsache, dass es sich bei all diesen Fällen um Eilverfahren handelt, die innerhalb von zwei bis drei Tagen zu bearbeiten sind, hat ein Richter kaum Möglichkeiten, die Stichhaltigkeit und Richtigkeit der von den Rechteinhabern vorgelegten Beweismittel hinreichend genau zu prüfen.

Massenabmahnungen_stoppen

In ihrem Brief führte die DigiGes aus, dass die aktuelle Praxis in Deutschland in Folge der Implementation von IPRED gegen EU-Recht verstößt, insbesondere gegen Artikel 8 IPRED (Recht auf Information) sowie die Artikel 8 (Schutz personenbezogener Daten) und 52 (Tragweite der garantierten Rechte) der Grundrechte-Charta der Europäischen Union. Laut Artikel 8 IPRED können die Gerichte die Herausgabe von Daten nur „auf einen begründeten und die Verhältnismäßigkeit wahrenden Antrag“ hin anordnen. Es liegt auf der Hand, dass ein Antrag, der mehrere Tausend IP-Adressen auf einmal umfasst, kaum als „verhältnismäßig“ bezeichnet werden kann. Aus der Sicht eines Richters ist es zudem mehr oder weniger unmöglich festzustellen, ob ein Antrag, der sich auf so viele (IP-)Adressen erstreckt, in jedem einzelnen Fall „begründet“ ist – noch dazu, wenn eine Entscheidung über sämtliche Adressen innerhalb von zwei oder drei Tagen getroffen werden muss. Dasselbe gilt für Artikel 52 der EU-Grundrechte-Charta, der vorschreibt, dass jegliche Einschränkungen von Grundrechten (wie beispielsweise des Schutzes personenbezogener Daten) dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit unterliegen.

Als Reaktion auf den Brief lud die Kommission im Oktober 2013 die DigiGes zu einem persönlichen Gespräch nach Brüssel ein, was die Gelegenheit bot, die Beschwerde ausführlicher darzulegen. In der Folge kam es zu einem umfangreichen Email-Wechsel mit weitergehenden Rückfragen und Diskussionen, besonders als der RedTube-Fall in den Medien für Aufsehen sorgte. Im Dezember 2014 schließlich, mehr als eineinhalb Jahre nachdem sich die DigiGes zum ersten Mal an die Kommission gewandt hatte, entschied diese, den ersten Schritt zu einem Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland zu unternehmen. Die Kommission forderte die Bundesregierung auf, innerhalb von zehn Wochen eine Stellungnahme zur Praxis der Abmahnschreiben vorzulegen.

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Nach Eingang der deutschen Stellungnahme wird die Kommission die Argumentation der Bundesregierung evaluieren und über weitere Maßnahmen entscheiden. Dies könnte einerseits zur Folge haben, dass Deutschland Änderungen an seiner Gesetzgebung vornimmt, um den Vorschriften der IPRED-Richtlinie sowie der Grundrechte-Charta der Europäischen Union zu entsprechen. Andererseits wäre es ebenfalls möglich, dass die Kommission zu dem Ergebnis gelangt, dass die aktuelle rechtliche Situation in Deutschland keine Verletzung von EU-Recht darstellt. In diesem Fall würde das Verfahren eingestellt. Sollten die Kommission und die Bundesregierung aus irgendeinem Grund nicht zu einem Konsens gelangen, kann die Kommission den Fall vor den Europäischen Gerichtshof bringen und das eigentliche Vertragsverletzungsverfahren einleiten. Dieses wiederum kann dazu führen, dass Deutschland seine Rechtsvorschriften ändern muss oder wegen Verstoßes gegen EU-Recht mit einem Bußgeld belegt wird.

Bis dahin wird allerdings noch viel Zeit vergehen. Wir erwarten, dass Deutschland seine Antwort so lange wie möglich hinauszögern wird. Ab dem Zeitpunkt, in dem die Stellungnahme vorliegt, hat die Kommission wiederum zehn Wochen Zeit, um die Antwort der Regierung zu evaluieren. Ein darauf folgendes gerichtliches Vertragsverletzungsverfahren könnte bis zu zwei Jahre dauern und würde wiederholt werden, falls der Mitgliedstaat den Vorgaben des Gerichts nicht Folge leistet. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist noch unklar, ob Deutschland seine Gesetze, die einen Missbrauch von Abmahnugen erleichtern, ändern wird. Fest steht jedoch, dass mit der Aufforderung Deutschlands zur Stellungnahme ein wichtiger Schritt hin zum ersten Vertragsverletzungsverfahren mit netzpolitischem Schwerpunkt unternommen wurde.