Liebe Interessierte und Freund*innen der Digitalen Gesellschaft,

wieder neigt sich ein äußerst ereignisreiches Jahr dem Ende zu. Nachdem unsere Newsletter zuletzt aufgrund begrenzter Kapazitäten nur sehr unregelmäßig kamen (wenngleich die Erhöhung der Frequenz auf der Liste unserer guten Vorsätze für 2025 recht weit oben steht), wollen wir einen Rückblick auf unsere Arbeit im Jahr 2024 mit Euch teilen.

Unsere neue Geschäftsstelle

Einleitung

Zu Beginn des Jahres stand bei uns erst mal eine ganz konkrete Herausforderung. Wir haben das Ladenlokal im Wedding verlassen und sind mit unserer Geschäftsstelle seit März in einem genossenschaftlichen Büro in Kreuzberg ansässig. Nicht nur dass es hier heller und gemütlicher (und im Winter auch wärmer) ist, unsere Kosten für die Miete haben sich halbiert. Unsere Postadresse: Großbeerenstraße 89, 10963 Berlin.

Im Laufe des Jahres haben wir uns aber natürlich vor allem inhaltlich mit zahlreichen Themen beschäftigt. Wir haben mehr oder weniger erfolgreich protestiert, uns mit fragwürdigen Beteiligungsprozessen herumgeärgert, sind gereist, haben über Strategien diskutiert und Alternativen aufgezeigt.

Um Euch nicht mit einem weiteren vorweihnachtlichen Gesamtjahresrückblick zu langweilen, wollen wir uns aber auf unsere wichtigsten Themenfelder des vergangenen Jahres konzentrieren und einen kleinen Ausblick auf 2025 geben.

e-punc und Tom bei der Demo zur Freilassung von Julian Assange (Foto: cven CC-BY)

Chatkontrolle

Ein ganz wesentlicher Erfolg der letzten Jahre war der Kampf gegen die Chatkontrolle. Da europäische Themen allzu oft erst diskutiert werden, wenn sämtliche wesentlichen Entscheidungen in Brüssel längst getroffen wurden, haben wir sehr frühzeitig angesetzt und das Bündnis „Chatkontrolle STOPPEN!“ initiiert. Seit dem Frühjahr 2022 setzen wir uns lautstark, aber auch hinter den politischen Kulissen gegen die anlasslose Überwachung und Kontrolle aller Kommunikation der gesamten europäischen Bevölkerung ein. Nicht zuletzt aufgrund des unermüdlichen Einsatzes der Zivilgesellschaft hat sich im Rat der Europäischen Union bislang keine Mehrheit für diese Massenüberwachung dystopischen Ausmaßes gefunden. Doch während wir in den vergangenen Jahren noch lautstark auf der Straße waren, mussten wir in diesem Jahr eher im Hintergrund daran arbeiten, dass im Rat weiterhin eine Sperrminorität besteht. Denn auch weiterhin gibt es regelmäßig Versuche durch vermeintliche „Kompromisse“ oder Schönfärbereien doch noch eine Mehrheit für die Chatkontrolle zu erreichen, zuletzt am 12. Dezember. Der Kampf gegen die Chatkontrolle ist also längst zu einem Marathon geworden – den wir nur gemeinsam mit unseren Bündnispartner*innen, European Digital Rights [EDRi] und nicht zuletzt Eurer Unterstützung durchstehen.

Das sogenannte Sicherheitspaket

Im Frühjahr wurde die europäische KI-Verordnung verabschiedet, die leider kein umfassendes Verbot biometrischer Überwachung im öffentlichen Raum enthält. Als Teil der Kampagne „Reclaim Your Face (RYF)“ haben wir daher gemeinsam mit anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen ein nationales Verbot biometrischer Fernidentifizierung gefordert. Doch statt sich an ihr Versprechen einer evidenzbasierten und den Grundrechten verpflichteten Sicherheitspolitik gebunden zu fühlen, hat uns die Ampel-Koalition nicht nur die kalte Schulter gezeigt, sondern nach dem Anschlag in Solingen Ende August ein „Sicherheitspaket“ vorgelegt, das populistischer und grundrechtsfeindlicher kaum hätte sein können. Gemeinsam mit dem RYF-Bündnis (Reclaim Your Face) haben wir lobbyiert, publiziert und demonstriert. Doch auch wenn die zu diesem Zeitpunkt schon kriselnde Regierungskoalition nicht auf die Einschätzungen von Sachverständigen und Zivilgesellschaft hören wollte (und zumindest Teile des Paket allein deshalb im Bundesrat gescheitert sind, weil CDU/CSU unbedingt noch die untote Vorratsdatenspeicherung hineinverhandeln wollten), hat der Kampf gegen die irrwitzigen Verschärfungen zumindest aufgezeigt, dass eine progressive und emanzipatorische Zivilgesellschaft zusammenstehen kann und sich nicht auf die vollmundigen Versprechungen der Regierenden verlassen darf.

Kundgebung gegen das sogenannte Sicherheitspaket

High-Level Group „Going Dark“

2024 war netzpolitisch auch geprägt von der Neuwahl des Europaparlament, denn der Rahmen für netzpolitische Themen wird zumeist in Brüssel gezimmert. Die Ergebnisse der Wahl im Juni lassen nichts Gutes ahnen und so blicken wir mit besonderer Sorge auf ein Thema, dass uns schon seit 2023 verfolgt, aber wohl erst in der kommenden EU-Legislatur konkret zu werden droht: Der Zugriff von Strafverfolgungsbehörden auf (Kommunikations-)Daten. Weitgehend unter dem Radar der kritischen Öffentlichkeit hat die EU-Kommission eine sogenannte „High-Level Group (HLG)“ installiert, die im Sommer konkrete Vorschläge gemacht hat, wie den Strafverfolgungsbehörden der Zugriff auf so ziemlich sämtliche Daten der europäischen Bevölkerung ermöglicht werden kann und soll. Unter dem Topos des „Going Dark“, also der (weitgehend evidenzfreien) Erzählung, dass die Ermittlungsbehörden angesichts von verschlüsselter Kommunikation vollkommen hilflos seien, hat die HLG – die weitgehend aus Vertreter*innen von Strafverfolgungsbehörden bestand – tief in die überwachungsstaatliche Mottenkiste gegriffen. Unter anderem fordern sie „access by design“, also die Sicherstellung des Zugriffs auf Kommunikationsdaten und -inhalte, die von Anbietern sichergestellt werden soll – sei es durch Hintertüren oder Client-Side-Scanning. Und natürlich darf auch hier die Forderung nach der Vorratsdatenspeicherung nicht fehlen.

Gemeinsam mit EDRi haben wir die Arbeit der HLG kritisch begleitet und zuletzt gemeinsam mit Organisationen aus Zivilgesellschaft und Wirtschaft einen offenen Brief geschrieben.

Mit konkreten Vorschlägen zur Umsetzung dieser Konzepte ist schon bald zu rechnen. Und ähnlich wie bei der Chatkontrolle, wird es nicht zuletzt an der deutschen Politik liegen, ob derart maßlose Überwachungsphantasien schon in nicht allzu ferner Zukunft Realität werden könnten.

Netzpolitischer Abend

Großes Aushängeschild und nicht aus der netzpolitischen Szene wegzudenkendes regelmäßiges Event bleibt der monatliche Netzpolitischen Abend (NPA). Seit vielen Jahren laden wir aktive Menschen, Expert*innen und Organisationen am ersten Dienstag des Jahres auf die c-base in Berlin-Mitte, um aktuelle Themen zu diskutieren und Projekte vorzustellen. Nach all den Jahren war es an der Zeit, den NPA einmal organisatorisch und inhaltlich zu reflektieren und erweitern. Dank einer Förderung der Stiftung Engagement und Ehrenamt (DSEE) konnten wir unter anderem Toni als studentische Hilfskraft speziell zur Vorbereitung und Durchführung dieser Veranstaltungen einstellen, einigen Speaker*innen eine Entschädigung anbieten oder ihre Anreise bezahlen und ein neues Format ausprobieren: Die Netzpolitische Matinée.

Ein bisschen unter dem Motto „Mit Kaffee, Kuchen und Kinderbetreuung“ haben wir zwei Veranstaltungen organisiert, die nicht während der Woche abends im Hackerspace sondern Sonntag nachmittags in der Regenbogenfabrik in Berlin-Kreuzberg stattgefunden haben. Anders als bei den NPAs haben wir jeweils drei Expert*innen eingeladen, die nach einem kurzen Input zum Thema untereinander und mit dem Publikum diskutieren. Im April stand der „Kinder- und Jugendschutz im Internet“, im September „Open Source und das Fediverse für eine freieres Internet“ im Mittelpunkt. Anschließend konnten wir entspannt im Garten weiter diskutieren und neue Projekte planen.

Elektra Wagenrad, Martin Andree, Rebecca Sieber und Stefan Mey bei unserer zweiten Matinée

Auch bei den Netzpolitischen Abenden waren die Highlights in diesem Jahr unsere Themenabende.

Gleich im Februar hatten wir in Kooperation mit netzpolitik.org Expertinnen von der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF), Amnesty International und Pro-asyl zu „Digitale Kontrolle im Einsatz gegen Geflüchtete“ eingeladen.

Europa vs Big Tech“ war das Thema im April. Konkret ging es dabei um die Europäischen Gesetze Digital-Service-Act und Digital-Markets-Act (DSA & DMA) und deren Einfluss auf die (quasi-) monopolistischen Plattform Google, Amazon, Apple, Microsoft und Meta.

Zur Überwachung in politischen Strafverfahren hatten wir gemeinsam mit dem Republikanischen Anwältinnen und Anwälteverein (RAV) beim Themenabend „Aktivismus im Visier“ eine betroffene Person wie auch juristische und technische Einschätzung zum „Schnüffelparagrafen“ 129a SGB zu Gast.

Im Juni ging es im Vorfeld der EU-Wahlen darum, was die Entscheidungen aus Brüssel für uns bedeuten. Hier gibt es die Videos dazu.

Der für Dezember geplante Schwerpunktabend zum Computerstrafrecht (und nicht zuletzt zur Zukunft des Hackerparagraphen) ist erstmal verschoben, da nach dem Bruch der Koalition der Gesetzgebungsprozess ins Stocken geraten ist.

Ausblick

Doch nicht nur die dringend gebotene Reform des Computerstrafrechts ist dem Ampel-Aus zum Opfer gefallen. Auch zahlreiche andere Vorhaben und Projekte, die von der selbsterklärten „Fortschrittskoalition“ im Koalitionsvertrag vollmundig angekündigt wurden, sind auf der Strecke geblieben. Vom Digitalen Gewaltschutz über Quick-Freeze und Beschäftigtendatenschutz bis zur grundlegend anderen politischen Kultur unter Einbeziehung der Zivilgesellschaft ist wenig umgesetzt worden. Stattdessen wurden uns Debakel wie das „Sicherheitspaket“ oder die grundverkorkste ePA geliefert, ein starker und unabhängiger Datenschutz konterkariert und die Innenministerin hat gemeinsam mit ihren Länderkolleg*innen angekündigt, dass die groß angekündigte Überwachungsgesamtrechnung direkt im Mülleimer landen wird…

Leider gibt es nur wenige Gründe, optimistisch in das nächste Jahr zu blicken. Die ewig untote Vorratsdatenspeicherung steht vor einem neuen Erweckungsversuch, die letzten Lücken an den EU-Außengrenzen werden mittels Drohnen und KI geschlossen und jenseits des Atlantik verschmelzen Big Tech und Regierung. Aber gerade die Enttäuschungen und Frustrationen der letzten Jahre haben dazu beigetragen, dass die digitale Zivilgesellschaft enger zusammenrückt. Denn auch wenn sich das in den Wahlprogrammen und absurden Zuständigkeitsstreitereien in Parlament und Regierung nicht wiederfindet: Wir werden uns nicht mehr zurück in eine kleine politische Nische drängen lassen. Die netzpolitische Community hat allen Grund selbstbewusst und laut zu sein. Und wenn die Ampel gescheitert ist, müssen wir eben eine eigene, zivilgesellschaftliche „Fortschrittsopposition“ bilden. Gerade in Deutschland gibt es eine Menge Vereine und NGOs mit denen wir viele gemeinsame Ziele teilen. Eine große Stärke der DigiGes war es immer, verschiedenste Akteur*innen zusammenzubringen – eine Fähigkeit, die in den nächsten Jahren so dringend gebraucht werden wird, wie selten zuvor.

Die Herausforderungen sind groß, denn wie bei vielen Organisationen der Zivilgesellschaft sind die vergangenen Krisenjahre nicht spurlos an uns vorbei gegangen. Die Finanzierung unabhängiger Vereine, die nicht den Interessen von Wirtschaftsverbänden oder politischen Parteien verpflichtet ist, ist nicht leichter geworden.

Während Big Tech Unsummen in Lobbyarbeit investiert und die Politik allzu bereit ist, sich von interessegeleiteten Thinktanks eine Zivilgesellschaft vorgaukeln zu lassen, wird es immer schwieriger eine Grundfinanzierung durch Stiftungen und Förderprogramme zu bekommen.

Aber da die politische Lage im Allgemeinen und der Kampf um digitale Grundrechte im Besonderen mehr denn je organisierter und unabhängiger Strukturen bedarf, werden wir uns in der nächsten Zeit noch mehr bemühen, die zivilgesellschaftliche Schlagkraft durch Bündnisse auch jenseits der netzpolitischen Blase zu erhöhen – und Strukturen schaffen, in denen ehrenamtliches Engagement auch netzpolitisch sinnvoll eingebracht werden kann. Schreibt uns sehr gerne, wenn Ihr Euch aktiv einbringen und engagieren wollt!

Denn auch das vergangene Jahr hat gezeigt, dass der Einsatz für (digitale) Grundrechte zwar gelegentlich frustrierend, aber keineswegs erfolglos ist. Mit einer Fördermitgliedschaft oder einer Spende unterstützt Ihr unsere Arbeit, damit wir weiterhin für die Grundrechte im Netz kämpfen können.

Vielen Dank für Euer Interesse an unserer Arbeit!

Wir wünschen Euch ein gesundes, friedliches und datenschutzfreundliches neues Jahr!

Tom und e-punc