Morgen wird der Europäische Gerichtshof (EuGH) die entscheidende Weichenstellung bei der EU-weiten Einführung der Vorratsdatenspeicherung vornehmen. Im Zentrum des mit Spannung erwarteten Urteils steht die Frage, ob die europäische Richtlinie aus dem Jahr 2006, welche die nationalen Gesetzgeber zur Regelung der anlasslosen Speicherung von Verbindungsdaten verpflichtet, mit EU-Grundrechten vereinbar ist.
Das höchstrichterliche Votum ist aus deutscher Sicht vor allem deshalb von besonderer Bedeutung, weil die Regierungsparteien die beabsichtigte Einführung der anlasslosen Massenspeicherung in der Koalitionsvereinbarung primär mit dem aus der Richtlinie folgenden Umsetzungszwang begründen. Auch erklärten die Minister Maas und De Maiziére noch Anfang des Jahres, ein Gesetzesentwurf solle frühestens nach der Entscheidung des EuGH vorgelegt werden, um dessen Vorgaben berücksichtigen zu können. Der Generalanwalt beim EuGH, dessen Empfehlung der Gerichtshof zumeist folgt, plädierte im Dezember 2013 zwar dafür, die Richtlinie wegen Verletzung des EU-Grundrechts auf Privatsphäre in ihrer gegenwärtigen Form auszusetzen, hielt eine grundrechtskonforme Regelung aber weiterhin für möglich. Der europäische Gesetzgeber solle daher zur Nachbesserung verpflichtet werden.
„Wir wünschen uns, dass der Gerichtshof die Zeichen der Zeit erkennt und die Vorratsdatenspeicherung nicht nur aufschiebt, sondern grundweg verwirft. Seit dem Erlass der Richtlinie im Jahr 2006 haben sich Sach- und Rechtslage wesentlich verändert. Die Nutzung digitaler Kommunikationsmittel hat in den vergangenen Jahren stetig zugenommen. Unser Kommunikationsverhalten ist heute mehr denn je Abbild unseres Lebens und unserer Persönlichkeit. Außerdem ist die Grundrechte-Charta durch den Vertrag von Lissabon verbindliches EU-Recht geworden und hat damit auch juristisch an Stellenwert gewonnen. Die Snowden-Enthüllungen sowie die jüngsten Studien von Forschern in Stanford und am MIT haben uns zudem das totalitäre Potential der anlasslosen Massenspeicherung persönlicher Daten eindringlich vor Augen geführt.“, erklärt Volker Tripp, politischer Referent des Vereins Digitale Gesellschaft.
Im Rahmen der Vorratsdatenspeicherung sollen Telekommunikationsprovider gesetzlich verpflichtet werden, sämtliche Verbindungs- und Standortdaten der Email- und Telefonkommunikation ohne konkreten Anlass über mehrere Monate hinweg aufzubewahren. Wer, wann, wo und wie lange mit wem telefoniert hat, soll dabei ebenso festgehalten werden wie Absender, Adressat, Zeitpunkt und Betreff versendeter Emails. Polizei und Staatsanwaltschaft sollen die Möglichkeit bekommen, auf diesen Datenbestand zuzugreifen, um schwere Straftaten zu verfolgen.
Obwohl insbesondere Unionspolitiker hartnäckig behaupten, die Vorratsdatenspeicherung sei ein unverzichtbares Instrument zur Kriminalitätsbekämpfung, konnte das Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht wissenschaftlich nachweisen, dass die Vorratsdatenspeicherung nicht zu einer Steigerung der Aufklärungsquoten beiträgt. Als ebenso haltlos erweist sich die Behauptung, eine Verletzung der Privatsphäre sei nicht zu befürchten, weil nicht die Inhalte, sondern nur die Eckdaten der Kommunikation gespeichert würden. Tatsächlich können mittels Verbindungs- und Standortdaten aber Profile über das Wesen und die soziale Vernetzung einer Person, ihre Lebensgewohnheiten und ihre Aufenthaltsorte erstellt und ihr künftiges Verhalten antezipierbar gemacht werden. So haben Forscher der Stanford-Universität kürzlich gezeigt, dass aus solchen Daten mit hoher Verlässlichkeit auf medizinische, finanzielle oder rechtliche Probleme sowie politische und religiöse Ansichten einer Person geschlossen werden kann.
Volker Tripp weiter: „Nicht erst der direkte staatliche Zugriff auf Kommunikationdaten, sondern bereits ihre lückenlose Protokollierung durch private Firmen untergräbt anwaltliche, ärztliche, geistliche und journalistische Vertrauensverhältnisse und eröffnet Missbrauchsmöglichkeiten, die völlig außer Verhältnis zum empirisch nicht nachweisbaren Nutzen für die Strafverfolgung stehen. Wenn Unionsabgeordnete hier verharmlosend von einer ‚privaten Vorsorgespeicherung‘ sprechen, führen sie die Öffentlichkeit im Mindesten fahrlässig in die Irre. Dass die hochsensiblen Verbindungsdaten gerade bei den Telekommunikationsunternehmen nicht gut aufgehoben sind, verdeutlicht die kaum überschaubare Vielzahl der Fälle von Datendiebstahl, unter anderem bei Providern wie der Deutschen Telekom und Vodafone. Die Einführung der Vorratsdatenspeicherung ist daher weder juristisch noch politisch zu rechtfertigen.“
Hintergründe und weiterführende Infos gibts auf unserer Mitmach-Seite zum Thema.
Vielen Dank für den Beitrag. Kannst Du die Links zu den MIT-/ Stanford-Studien posten? Danke!
Gerne:
MIT: http://realitycommons.media.mit.edu/download.php?file=deMontjoye2013predicting-citation.pdf
Stanford: http://webpolicy.org/2014/03/12/metaphone-the-sensitivity-of-telephone-metadata/