Bereits im Frühjahr 2021 hat die Digitale Gesellschaft die demokratischen Parteien im Deutschen Bundestag angeschrieben und ihre netzpolitischen Erwartungen für die kommende Legislatur formuliert.
Nun ist die Wahl gelaufen und SPD, Grüne und FDP treten jetzt auch formell in Koalitionsverhandlungen ein. Dass im zugrundeliegenden Sondierungspapier der Digitalisierung ein hoher Stellenwert eingeräumt wird und die Bürgerrechte gestärkt werden sollen, lässt uns verhalten optimistisch sein. Doch ob es den drei Parteien wirklich gelingen wird „einen neuen gesellschaftlichen Aufbruch auf Höhe der Zeit“ zu schaffen und ob die versprochene neue „digitalpolitische Strategie“ diesmal aus mehr als Absichtserklärungen und Leuchtturmprojekten bestehen wird, wird unter anderem davon abhängen ob dieses Unterfangen tatsächlich „auch aus der Kraft der Zivilgesellschaft heraus gespeist wird“.
Die Liste der Versäumnisse und Fehlentwicklungen der letzten Jahre und Jahrzehnte ist lang. Der unzureichende Netzausbau und vernachlässigte Datenschutz, die sicherheitspolitischen Irrläufer und das ständige digitale Behördenversagen sind allzu offensichtlich. Daher sind die Erwartungen an eine künftige Regierungskoalition auf der einen Seite nicht besonders groß: Endlich mal etwas Gutes liefern wäre schon eine große Verbesserung. Auf der anderen Seite sind die Baustellen zu groß, als dass ein etwas weniger planloser kleinster gemeinsamer Nenner ausreichen würde.
Die Digitale Gesellschaft möchte daher an netzpolitische Versprechen der drei Parteien erinnern und einige Punkte aufzeigen die notwendig sind, um eine den Grundrechten und den Bedürfnissen der Bevölkerung verpflichtete Digitalisierung zu gestalten.
1. Digitale Infrastruktur
Einen schnelleren Ausbau der technischen Infrastruktur wird von allen Parteien seit Jahren versprochen und auch laut Sondierungspapier soll der Gigabit-Ausbau „engagiert“ vorangetrieben werden. Wie dies konkret umgesetzt werden soll, ist bislang allerdings unklar. Absehbar ist jedenfalls, dass ein bloßer Rechtsanspruch die weißen Flecken insbesondere im ländlichen Raum ebenso wenig schließen wird, wie ein wenig Bürokratieabbau oder „Gigabit-Gutscheine“, wie sie die FDP verspricht.
Große Übereinstimmung könnte es bei der Förderung von freier Software geben. Die Fachleute der Parteien sind sich mittlerweile weitgehend einig, dass Open-Source-Lösungen nicht nur in der öffentlichen Verwaltung proprietären Systemen überlegen sind. Doch diese Einsicht wird bislang nur selten in konkrete politische Vorgaben und Maßnahmen umgesetzt. Und auch die Wahlprogramme bleiben jenseits eines grundsätzlichen Bekenntnisses zu Open-Source eher vage.
In einem Koalitionsvertrag gilt es nun, dieses grundsätzliche Bekenntnis in konkrete Maßnahmen umzusetzen. Dazu gehört neben des konsequenten Umsetzens des Grundsatzes „Public Money, Public Code“ und einer entsprechenden Ausschreibungs- und Vergabepolitik die institutionelle Förderung der unabhängigen und gemeinwohlorientierten Entwicklung freier Software, etwa durch eine mit entsprechenden Mitteln ausgestatteten Stiftung.
In den Koalitionsverhandlungen wird sich auch zeigen, ob „Innovation“ auch jenseits von Wirtschaftsförderung gedacht wird und ernsthafte Schritte in Richtung des Ausbaus eines breiten und gemeinwohlorientierten Ökosystems von Betreibern digitaler Infrastruktur unternommen werden, die die strukturelle Abhängigkeit von großen Techunternehmen und Monopolisten nachhaltig infrage stellen.
Alle drei Parteien haben sich in ihren Wahlprogrammen für ein starkes Recht auf Verschlüsselung ausgesprochen. Dieser Konsens muss sich nicht nur in den Ergebnissen der Koalitionsverhandlungen, sondern auch im zukünftigen Regierungshandeln niederschlagen. Das Recht auf eine sichere Kommunikation darf nicht weiter durch die Ausnutzung von Schwachstellen zu polizeilichen und geheimdienstlichen Zwecken oder durch gesetzgeberische Maßnahmen ausgehöhlt werden. Durch die Abschaffung des Einsatzes von Staatstrojanern könnte eine selbsterklärte „Fortschrittskoalition“ unter Beweis stellen, dass eine den Grundrechten verpflichtete Politik nicht nur darin bestehen kann, weiteren Schaden zu vermeiden, sondern auch autoritäre Verirrungen und Fehler der Vergangenheit zu korrigieren.
2. Offenes Internet
Eine der ersten netzpolitischen Aufgaben der kommenden Bundesregierung wird es sein, den finalen Aushandlungsprozess des europäischen Digital Services Act (DSA) aktiv mitzugestalten. Nicht zuletzt die jüngsten Diskussionen um Facebook haben gezeigt, dass die intransparenten und problematischen Empfehlungssysteme und die auf verhaltensbasierter Werbung und umfassender Datensammlung beruhenden Geschäftsmodelle den Kern des Problems großer Online-Plattformen darstellen. Eine europäische Regulierung muss daher die Geschäftsmodelle der Plattformen in den Blick nehmen und nicht die Grundrechte der Nutzerinnen und Nutzer beschränken. Die Regulierung der Plattformen und ihrer Geschäftsmodelle sollte dazu beitragen, dass die Grundlagen für breite öffentliche Diskussionen gelegt werden und nicht diese Diskussionen selbst regulieren.
Die zukünftigen Koalitionäre sind sich wohl einig, dass auch im Internet die Strafverfolgung eine staatliche Aufgabe bleibt und dass es nicht die Aufgabe der großen Plattformen ist, über die Grenzen der Meinungsfreiheit zu bestimmen. Aus den Diskussionen und Erfahrungen um das NetzDG – zu dem die Parteien bislang ja sehr unterschiedliche Positionen vertreten – und der Praxis der Plattformen in der Inhaltemoderation lässt sich jedenfalls lernen, dass gesetzliche Löschanreize ebenso wenig gegen illegale Inhalte im Netz helfen wie die Moderationswillkür der Netzwerke selbst. Es bedarf vielmehr Transparenz und unabhängiger, staatsferner Aufsichtsstellen unter umfassender Wahrung der Grundrechte von Nutzerinnen und Nutzern.
Gegen rechte Gewalt und Hetze im Netz bedarf es endlich einer kohärenten Förderung zivilgesellschaftlicher Initiativen und eine konsequenten Bekämpfung der gesellschaftlichen Ursachen von Gewalt und Menschenverachtung. Wir begrüßen daher ausdrücklich, dass die Parteien sich grundsätzlich über die Schaffung eines Demokratiefördergesetzes einig sind und hoffen, dass es den zivilgesellschaftlichen Erwartungen gerecht wird.
Nicht zuletzt die Diskussionen um Uploadfilter im Urheberrecht haben gezeigt, dass das deutsche Urheberrecht einer grundlegenden Reform bedarf. Dessen Verankerung in einem Werkbegriff aus dem 19. Jahrhundert und die Ausrichtung auf analoge Vertriebssysteme schafft in der digitalen Welt mehr Probleme als es löst. Eine „Fortschrittskoalition“ sollte die dringend notwendige Anpassung des Urheberrechts an das Internetzeitalter angehen statt weiterhin zu versuchen, das Internet an die Bedürfnisse der Medienindustrie anzupassen.
3. Datenschutz
Alle drei Parteien bekennen sich zu einem starken Datenschutz, den sie weiterentwickeln wollen. Im bislang vorliegenden Sondierungspapier findet sich der Begriff – ganz im Gegensatz zur Digitalisierung – hingegen nicht. Während SPD und Grüne in ihren Wahlprogrammen unter anderem einen starken Beschäftigtendatenschutz fordern, betont die FDP die Einwilligung in Datenweitergabe und die Auswirkungen des Datenschutzes auf kleinere und mittlere Unternehmen.
Für eine konsequente und nachhaltige Digitalisierung ist ein starker Datenschutz zentrale Voraussetzung, da er die grundlegende Akzeptanz eines umfassenden digitalen Wandels legt und das Grundrecht der Bevölkerung auf informationelle Selbstbestimmung wahrt.
Die dringend nötige Digitalisierung der Verwaltung wird nur gelingen, wenn ein umfassender Datenschutz ebenso garantiert wird, wie die Transparenz über die Verarbeitung von Daten durch die öffentliche Verwaltung.
Es bedarf daher beim Datenschutz klarer gesetzlicher Vorgaben. Die Stärkung der Grundrechte wird sich nicht durch einen kleinsten gemeinsamen Nenner und unter Rücksichtnahme auf Wirtschaftsinteressen umsetzen lassen. Wir hoffen daher, dass dem Datenschutz im Koalitionsvertrag angemessen Rechnung getragen wird und dem Machtungleichgewicht zwischen Verbraucherinnen und Verbrauchern und großen Internetunternehmen angemessen Rechnung getragen wird, etwa wenn es um die vermeintlich „freiwillige“ Zustimmung zur Datenverabeitung geht.
Zentrale datenschutzrechtliche Baustellen der künftigen Koalition sehen wir insbesondere beim Beschäftigtendatenschutz. Grundlegend auf den Prüfstand gestellt gehören das Ausländerzentralregister, das in den letzten Jahren zu einem Instrument der Totalerfassung für zahlreiche Menschen ausgebaut wurde und die Digitalisierung im Gesundheitswesen, die den Schutz äußerst sensibler Daten bislang vollkommen unzureichend wahrt.
Akzente zu einem starken Datenschutz kann eine künftige Bundesregierung auch in den stockenden Trilog-Verhandlungen zur ePrivacy-Verordnung setzen und dazu beitragen, dass Privacy-by-Default und das Verbot von Tracking nicht nur bloße Wahlversprechen bleiben.
4. Sicherheitspolitik
Eine mögliche Ampelkoalition bietet die Chance für eine grundrechtsgeleitete Sicherheitspolitik, die nicht auf jede gesellschaftliche Herausforderung mit Strafrechtsverschärfungen und immer neuen Kompetenzen für die Sicherheitsbehörden reagiert. Wir begrüßen daher ausdrücklich, dass die Parteien sich darauf geeinigt haben, eine Gesamtbetrachtung der sicherheitsrechtlichen Eingriffsbefugnisse und eine Generalrevision der Sicherheitsarchitektur durchzuführen. Auch wenn bislang ein ausdrückliches Moratorium für neue Überwachungs- und Eingriffsbefugnisse fehlt, besteht die Hoffnung, dass der Trend zu immer weiteren Verschärfungen und einer immer weitergehenden Beschneidung von zentralen Grundrechten zumindest vorläufig gestoppt wird.
Jedoch darf die Einigung auf eine Überwachungsgesamtrechnung nicht dazu führen, dass der Rückbau eines überbordenden Sicherheitsapparates nicht bereits jetzt angegangen wird.
Die Tatsache, dass alle an den Verhandlungen beteiligten Parteien in verschiedenen Konstellation an den sicherheitspolitischen Verschärfungen der letzten zwanzig Jahre – von den Otto-Katalogen über Vorratsdatenspeicherung und Hackerparagraph bis zum Staatstrojaner für alle Geheimdienste – beteiligt waren, darf einem gesellschaftlichen Aufbruch und einer rechtsstaatlichen und den Grundrechten verpflichteten Politik nicht im Wege stehen.
So haben sich in den letzten Jahren und im Wahlkampf die drei Parteien zumindest teilweise gegen konkrete Überwachungsmaßnahmen wie den Einsatz von Staatstrojanern ausgesprochen und betonen den Wert verschlüsselter Kommunikation. Nichts hindert sie nun daran, diese Fehlentwicklung rückgängig zumachen. Die drei Parteien haben gemeinsam formuliert, dass sie den Wandel zu einem „ermöglichenden, lernenden und digitalen Staat“ wollen. Dazu gehört auch, mutig vergangene Fehler einzugestehen und Fehlentwicklungen aktiv entgegen zu steuern.
Auch auf europäischer Ebene dürfen die deutsche Regierung und ihre Behörden (etwa das BKA) nicht länger der Motor für den Ausbau von Überwachungskompetenzen sein. Stattdessen hoffen wir, dass eine künftige Regierung sich für die Stärkung von Verfahrensgarantien und Betroffenenrechten auch in Europa stark macht. Die internationale Zusammenarbeit von Sicherheitsbehörden darf nicht dazu führen, dass rechtsstaatliche Garantien durch das niedrigere Schutzniveau anderer Länder ausgehebelt werden, dass unkontrollierter massenhafter Datenaustausch ausgebaut wird und dass politische Verantwortung für Menschenrechtsverletzungen nach Brüssel oder über die EU-Außengrenzen hinaus ausgelagert werden.
5. Zivilgesellschaft und Partizipation
Die möglichen Koalitionspartner haben in ihren Sondierungsgesprächen die neue politische Kultur betont, die sie prägen wollen. Alle drei Parteien haben im Wahlkampf die Bedeutung von zivilgesellschaftlicher Beteiligung und bürgerschaftlichem Engagement betont. Dies sollte auch Ausdruck im Koaltionsvertrag und im künftigen Regieren finden. In der kommenden Legislatur darf die Zivilgesellschaft nicht wieder an den Katzentisch verbannt werden. Stattdessen muss die Einbindung ihrer Expertise in sämtliche politischen Entscheidungsprozesse von Beginn an selbstverständlich sein.
Dazu gehört jedoch nicht nur ein Wandel der politischen Kommunikation sondern konkrete politische Maßnahmen. So müssen die Geschäftsordnungen des Bundestags und der Bundesministerien angepasst werden und die zivilgesellschaftliche Beteiligung mit ausreichenden Fristen ebenso verankert werden, wie die Transparenz von Ausschuss- und Regierungsarbeit. Geplante Entscheidungen und Gesetzgebungsprozesse müssen frühzeitig veröffentlicht und legislativer wie exekutiver Fußabdruck eingeführt werden.
Zivilgesellschaftliches Engagement braucht aber auch einen starken organisatorischen Unterbau. Die Herausforderungen, die die Digitalisierung zahlreichen Ehrenamtlichen und ihren Strukturen abverlangt, braucht politischen Rückhalt und finanzielle Unterstützung. Aber auch die digitale Zivilgesellschaft stößt an ihre Grenzen, solange es an Fördermechanismen mangelt, die den Aufbau nachhaltiger Strukturen unterstützen und nicht nur vermeintliche Innovation im Blick haben. Die Entwicklung von Open Source Software und freien IT-Infrastrukturen muss gemeinnützig im Sinne der Abgabenordnung werden.
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