Obwohl ihr drei für das Internet zuständige Ministerien zur Seite stehen, mischt sich Bundeskanzlerin Merkel zunehmend höchstselbst in die Debatte um die Netzneutralität ein. Nachdem sie bereits auf dem Nationalen IT-Gipfel die Auffassung vertrat, dass sich Fragen der Netzneutralität erst in einem voll ausgebauten Glasfasernetz stellten, legte sie heute auf einer Veranstaltung des Vodafone Instituts für Gesellschaft und Kommunikation mit Äußerungen zu Spezialdiensten nach.

Auch wenn die Aussagen der Bundeskanzlerin dabei nicht immer eindeutig formuliert sind, lassen sie doch eine klare Tendenz zum Abbau der Netzneutralität erkennen. Auf der heutigen Veranstaltung sprach sich Merkel offen für die Zulassung von Spezialdiensten und eine bevorzugte Behandlung des durch diese Dienste verursachten Datenverkehrs aus.

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Was ist ein Spezialdienst?
Unerwähnt ließ sie allerdings, was genau sie unter Spezialdiensten versteht. Beispielhaft erwähnte sie zwar Anwendungsbereiche wie das fahrerlose Autofahren und die Telemedizin, eine allgemeine Definition der Spezialdienste lieferte sie hingegen nicht. Dabei ist eine genaue begriffliche Eingrenzung der Spezialdienste, um die auf EU-Ebene heftig gestritten wurde und wird, eine der wesentlichen Stellschrauben zur Wahrung der Netzneutralität.

Versteht man unter Spezialdiensten etwa jegliche Dienste, die über eine strikte Zugangskontrolle verfügen und priorisiert zum Endkunden weitergeleitet werden, so könnten beliebte und etablierte Dienste des offenen Internet, beispielsweise Spotify, Facebook oder Youtube, auf gesondert zu bezahlende Spezialdienste ausgelagert werden. Während die Dienste sich damit einen Wettbewerbsvorteil gegenüber der Konkurrenz erkaufen könnten, wären Nutzerinnen und Nutzer gezwungen, zusätzlich in die Tasche zu greifen, um den Dienst weiterhin zu verwenden. Werden Spezialdienste hingegen auf solche Anwendungen beschränkt, für deren Funktionalität eine garantierte Übertragungsqualität und -geschwindigkeit technisch notwendig sind, wäre diese Gefahr weitgehend gebannt.

Dass Merkel ausgerechnet selbstfahrende Autos und Telemedizin als Beispiele für Spezialdienste nennt, ist angesichts der jahrelangen Bemühungen der Providerlobby zum Abbau der Netzneutralität vernebelnd. Ihnen geht es weder um den Erhalt eines freien und offenen Netzes noch um Spezialdienste für Sonderanwendungen wie die Telemedizin. Ihr Interesse besteht vielmehr darin, die Internetzitrone bis auf den letzten Cent auszuquetschen und nach Möglichkeit für jeden Zugriff auf einen Online-Dienst gesondert abzukassieren. Nicht zuletzt deshalb wären an dieser Stelle deutlichere Worte der Bundeskanzlerin mehr als wünschenswert gewesen.

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Physikalisch oder logisch getrennt?
Mangels genauerer Definition der Spezialdienste bleibt auch unklar, ob Merkel eine Drosselung oder Blockierung von Inhalten des offenen Internet zugunsten von Spezialdiensten befürwortet oder nicht. Hintergrund dieser Frage ist der Umstand, dass Dienste wie das fahrerlose Autofahren entweder über dieselbe Infrastruktur wie das offene Internet oder über separate Leitungen und Verbindungen vermittelt werden können. Sind das offene Internet und Spezialdienste physikalisch getrennt, so konkurrieren sie nicht um Kapazitäten und es gibt keinen technischen Grund, das offene Netz zugunsten von Spezialdiensten zu verlangsamen. Allerdings entsteht damit zugleich das Risiko, dass Provider dann nur noch in den Ausbau der rentablen Überholspuren investieren, während sie Pflege und Erweiterung der Kapazitäten für das offene Internet vernachlässigen. Anders sieht es aus, wenn beide über dieselben Leitungen laufen und nur „logisch“ voneinander getrennt sind. Dann machen sich offenes Internet und Spezialdienste Leitungskapazitäten streitig, so dass Spezialdienste bei knapper Bandbreite nur dann in einer bestimmten Qualität übertragen werden können, wenn parallel der Datenstrom des offenen Internet gedrosselt wird.

Merkels Äußerung „Wir brauchen das offene Internet und das für Spezialdienste.“ könnte so verstanden werden, dass sie Spezialdienste nur auf gesonderten, vom offenen Internet physikalisch getrennten Infrastrukturen zulassen möchte. In diese Richtung deutet auch die beispielhafte Erwähnung des fahrerlosen Autofahrens und der Telemedizin, die kaum mit der nötigen Ausfallsicherheit über das offene Netz betrieben werden könnten. Wenn die Bundeskanzlerin allerdings anfügt: „Diese beiden Seiten muss man zusammenbringen“, so legt dies eher die Interpretation nahe, dass ihr allenfalls eine logische Trennung zwischen offenem Internet und Spezialdiensten vorschwebt.

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Netzneutralität regelt ein Verteilungsproblem
Dass die Bundeskanzlerin mit diesen begrifflichen Unschärfen lediglich taktiert, darf bezweifelt werden. Eine weitere Äußerung Merkels nährt vielmehr die Vermutung, dass sie Materie schlicht nicht richtig durchdrungen hat. Wie schon sinngemäß auf dem Nationalen IT-Gipfel, sagte sie auch auf der heutigen Veranstaltung: „Wir brauchen uns über Netzneutralität nicht zu unterhalten, wenn die Kapazitäten nicht zur Verfügung stehen.“. Tatsächlich ist das genaue Gegenteil richtig. Das Prinzip der Netzneutralität sichert die diskriminierungsfreie Verteilung der knappen Resource Bandbreite. Sind hingegen Leitungskapazitäten im Überfluss vorhanden, so verliert die Frage, welche Daten schneller und welche langsamer übermittelt werden, an Bedeutung und Brisanz.

Wenn eines aus Merkels heutigen Aussagen deutlich wird, dann nur das: die Netzneutralität betrachtet sie eher als ein Hindernis für die Einführung von Spezialdiensten als ein elementares Prinzip zur Sicherung eines freien, offenen und diskriminierungsfreien Internet. In Anbetracht des jüngsten Vorstoßes der italienischen Ratspräsidentschaft, der die Netzneutralität schwächt und einer Preisdiskriminierung Vorschub leistet, und eines Digitalkommissars Oettinger, der eine abgestufte Netzneutralität propagiert, müsste sich die Bundesregierung gerade jetzt für eine starke gesetzliche Gewährleistung der Netzneutralität auf EU-Ebene einsetzen. Statt den Versprechungen der Providerlobby auf den Leim zu gehen und Spezialdienste, so wie Merkel es tut, mit Innovationsfreundlichkeit gleichzusetzen, sollte sie den fairen Wettbewerb stärken, indem sie sich für gleiche Zugangsbedingungen für sämtliche Dienste, Nutzerinnen und Nutzer stark macht. Ganz nebenbei würde sie so auch noch etwas zur Sicherung der Meinungsvielfalt, der demokratischen Teilhabe und des freien Gedankenaustauschs beitragen.

 

2 Meinungen zu “Netzneutralität: Was Merkel sagt

  1. Thomas sagt:

    Hätte der Staat wirklich Interesse an Netzneutralität, wäre Infrastruktur Staatssache. Wenn man jedoch die Infrastruktur in die Hände von Wirtschaftsunternehmen gibt, und als Staat auch noch Lizenzen zu Versteigerungen ausschreibt, dann muss man sich nicht wundern, dass diese Wirtschaftunternehmen sich das investierte Geld zurückholen wollen (und auch müssen). Immerhin sind wir eine Marktwirtschaft.
    Die Frage ist dann, wo man sich das Geld zurückholt – vom Anbieter der Services, die hohe Bandbreiten erfordern, oder von den Konsumenten, die glauben, alles im Internet angebotene wäre kostenlos.
    Daher halte ich die Diskussion um Netzneutralität für eine Diskussion um Symptome, und nicht um Ursachen.

  2. Auceza sagt:

    Es ist doch klar, worum es geht.
    Lobbyisten manipulieren die Politiker mit kleinen Freundlichkeiten und „kompetenter“ Beratung.
    Die Politiker sind oftmals fachlich unterqualifiziert und wissen überhaupt nicht genau, worum es geht. Auf diese Weise werden die Interessen der Bevölkerung billig verhökert.
    Das findet doch in allen Bereichen konservativer Politik statt.
    Dieser Artikel reproduziert nur das Offensichtliche.

    Schade – Ich hatte mir mehr Engagement und Durchsetzungsfähigkeit von der digitalen Gesellschaft erhofft.

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