In die EU-Verhandlungen zum Thema Netzneutralität kommt endlich Bewegung – doch leider in die falsche Richtung. In einer wegweisenden Abstimmung hatte das Europäische Parlament im April 2014 für eine Fassung der EU-Telekommunikationsverordnung vortiert, die einige wichtige Regelungen zur Sicherung der Netzneutralität enthält. Der Rat der Europäischen Union, in dem die einzelnen Mitgliedsstaaten vertreten sind, hat sich bisher noch nicht auf eine Position zum Thema geeinigt. Dafür gibt es nun einen Vorschlag des derzeitigen italienischen Ratsvorsitzes, mit dem Netzneutralität jedoch faktisch abgeschafft werden würde.

Gemeinsam mit verschiedenen anderen Menschenrechtsorganisationen aus ganz Europa appellieren wir deshalb in einem offenen Brief an die Mitglieder des Rates, den italienischen Vorschlag abzulehnen:

Sehr geehrte Ratsmitglieder,
wir, die unterzeichnenden Organisationen, bitten Sie eindringlich, den jüngsten Vorschlag des italienischen Ratsvorsitzes zur Netzneutralität abzulehnen und stattdessen verbindliche Regelungen zur Sicherung der Netzneutralität zu erlassen.

Ohne klare Vorschriften zur Netzneutralität werden die großen Zugangsanbieter zu Türstehern, die die Macht haben, nur denen Zugang zu ihren Kunden zu gewähren, die dafür zahlen können und alle anderen auszuschließen.

Mit dem italienischen Vorschlag vom 14. November gelingt es nicht, das Versprechen eines offenen Internets glaubhaft zu vermitteln. Er enthält weder eine klare Definition von Netzneutralität noch eine klare Absage an alle Formen der Online-Diskriminierung wie zum Beispiel Preisdiskriminierung. Die Annahme eines solchen Vorschlags würde auf die Abschaffung der Netzneutralität hinauslaufen und somit ernsthafte Konsequenzen für die Innovationskraft und Kommunikationsfreiheit in Europa sowie auf der ganzen Welt zur Folge haben.

Netzneutralität ist das Prinzip, nach dem alle Daten gleich behandelt werden – sowohl im Netzwerk selbst als auch für Abrechnungszwecke. Sie im Gesetz zu verankern, ist der einzige Weg, um sicherzustellen, dass das Internet offen für Innovationen bleibt und weiterhin eine Plattform zur Förderungen von Menschenrechten sein kann.

Netzneutralität ist gut für die europäische Wirtschaft
In einem europäischen digitalen Binnenmarkt fördert Netzneutralität fairen Wettbewerb und Innovation. Sie sorgt dafür, dass kleine und mittelständische Unternehmen sowie Start-Ups gleichberechtigten Zugang zum Internet haben. Es verbessert zudem die Wahlmöglichkeiten der Verbraucher, wenn nicht die Internetprovider bestimmen, wer am Markt die Gewinner und wer die Verlierer sind. Während die EU gerade eigentlich danach strebt, Barrieren für den Online-Markt abzubauen, würde ein Untergraben des Prinzips der Netzneutralität zur Entstehung neuer Barrieren führen.

Netzneutralität sichert Menschenrechte
Netzneutralität ist auch für die Menschenrechte und gesamte Gesellschaft wichtig. Die Möglichkeit der freien Meinungsäußerung sollte nicht von den Launen der Internetzugangsanbieter abhängig sein. Der Zugang zu Nachrichtenquellen und Inhalteanbietern muss deshalb für alle gleich möglich sein und nicht davon abhängen, dass man in der Lage ist, für schnellen Zugang oder zusätzliche Datengebühren zu zahlen. Wenn man Anreize, in den Onlineverkehr einzugreifen, grundsätzlich minimiert, reduziert man zudem die Gefahr von Zensur und Überwachung.

Dem aktuellen Vorschlag mangelt es an klaren Definitionen
Der italienische Ratsvorsitz scheint sowohl die Löschung der Definition von Netzneutralität als auch der von Spezialdiensten vorzuschlagen. Der Vorschlag spricht lediglich vom Ziel der Netzneutralität und verzichtet darauf, Schlupflöcher für Spezialdienste zu thematisieren. Aufgrund bisheriger Erfahrungen wissen wir, dass so ein schwacher Text keinen praktischen Nutzen für die Regulierung eines Telekommunikationsmarktes hat. (Vergleiche http://www.ectaportal.com/en/PRESS/ECTA-Press-Releases/2008/Europeans-pay-over-10-Billion-a-year/-print/)

Der aktuelle Vorschlag ermöglicht Preisdiskriminierung
Am beunruhigendsten ist, dass der Ratstext zu Artikel 23 keine Klarheit über Preisdiskriminierung schafft. Grundlegend für Netzneutralität ist das Prinzip, dass Zugangsanbieter nicht das Recht haben sollten, zu entscheiden, wer Zugang zu ihren Kunden erhält und wer nicht. Wenn bestimmte Dienste ohne zusätzliche Kosten genutzt werden können, während die Nutzung anderer Dienste mit zusätzlichen Kosten verbunden ist, dann ist der Effekt in der Praxis der gleiche wie beim Blockieren oder Drosseln der Dienste, die nicht für privilegierten Zugang zahlen können.

Der aktuelle Vorschlag ermöglicht Überholspuren für Daten
Die Inkohärenz der „Traffic Management“-Ausnahmen ist so umfassend, dass beinahe alles möglich wird.

Artikel 23.2.f zum Beispiel erlaubt Zugangsanbietern explizit, in den Datenverkehr einzugreifen, um die Versorgung der Nutzer mit anderen Diensten sicherzustellen. So wird die Möglichkeit geschaffen, bestimmten Diensten vertraglich die Nutzung von Überholspuren zu gewähren, mit der Folge, dass alle anderen Dienste auf der langsamen Spur beschränkt werden. Artikel 23 enthält eine Reihe von Bestimmungen, die Telekommunikationsunternehmen in die Lage versetzen würden, Maßnahmen der Zensur oder des Blockierens zu ergreifen – dabei müssen diese laut EU-Charta der Grundrechte auf Rechtsvorschriften beruhen.

Wir brauchen echte Netzneutralität
Wir brauchen klare EU-Vorschriften, die jegliche Form von Netzwerkdiskriminierung, wie zum Beispiel Blockieren, Drosseln oder Preisdiskriminierung, verbieten. Das schließt auch die sogenannten „zero-rated Services“ mit ein. Es braucht jetzt politische Entscheidungen: entweder wir erkennen den Wert eines offenen, demokratischen und innovativen Internets an und erlassen Gesetze, die es schützen, oder wir erlauben einigen ehemaligen Monopolisten ihre Monopolrechte wiederzuerlangen, beschränken Wettbewerb, beschränken Innovation und beschränken Kommunikationsfreiheit. Der italienische Entwurf nimmt für sich in Anspruch, ersteres zu tun, obwohl er offensichtlich letzteres macht. Europa verdient etwas Besseres.

Mit freundlichen Grüßen

Access
Alternative Informatics Association
Asociatia pentru Tehnologie si Internet (ApTI)
Bits of Freedom
Chaos Computer Club (CCC)
Digitale Gesellschaft e.V.
Digital Rights Ireland
Greenhost
Initiative für Netzfreiheit
Electronic Frontier Foundation Finland (EFFI)
European Digital Rights (EDRi)
IT-Politisk Forening (IT-Pol)
La Quadrature du Net
Net Users‘ Rights Protection Association
(NURPA)
OpenForum Europe (OFE)
Vrijschrift

Das englische Original des offenen Briefes findet ihr hier: https://s3.amazonaws.com/access.3cdn.net/9a0e636cedf56cc21d_cwm6b97ot.pdf

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