Mit einiger Verspätung hat die Europäische Kommission die lange erwarteten Leitlinien für die Umsetzung von Artikel 17 der Urheberrechtsrichtlinie (DSM-RL) in nationales Recht vorgelegt. Dieser besonders umstrittene Artikel sieht eine umfassende Verpflichtung zum Einsatz von Uploadfiltern vor. Auf der einen Seite enthalten die Leitlinien die ausdrückliche Klarstellung, dass wirksame gesetzliche Vorkehrungen zu treffen sind, damit keine rechtmäßigen Inhalte blockiert werden. Andererseits wurde – offenkundig auf Druck der Rechteindustrie – in letzter Minute ein Schlupfloch eingebaut, das eine weitreichende Umgehung von Nutzerinnen- und Nutzerrechten ermöglichen könnte.

Am 6. Juni ist die Frist abgelaufen, innerhalb derer die umstrittene Urheberrechtsrichtlinie (DSM-RL) in nationales Recht umgesetzt werden muss. Bislang haben längst nicht alle Mitgliedsstaaten die Richtlinie umgesetzt. Am 7. Juni ist das Gesetz zur Anpassung des Urheberrechts an die Erfordernisse des digitalen Binnenmarktes in Kraft getreten. Zu dem Gesetzespaket gehört insbesondere das neue Urheberrechts-Diensteanbietergesetz (UrhDaG), der ab August 2021 Uploadfilter vorschreibt.

Am 5. Juni, also unmittelbar vor Ablauf der Umsetzungsfrist hat die Kommission nun Leitlinien für die Umsetzung vorgelegt. Die Veröffentlichung dieser – nicht bindenden, aber für eine europaweit abgestimmte und praktikable Lösung wichtigen Leitlinien – war seit Monaten erwartet und immer wieder kurzfristig verschoben worden. Vorangegangen war ein umfangreicher Stakeholder-Dialog, in dem die Kommission ihre Vorstellungen zur Diskussion gestellt hatte.

Mit dem abschließenden Dokument wurden nun viele Erwartungen zivilgesellschaftlicher Organisationen und Initiativen enttäuscht. Während des gesamten Stakeholder-Dialogs hat die Kommission deutlich gemacht, dass eine Umsetzung des Art. 17 DSM-RL sicherstellen müsse, dass Nutzerinnen- und Nutzerrechte gewahrt werden und nur offensichtlich unrechtmäßige Nutzungen automatisiert blockiert werden dürfen. Teilweise findet sich dies auch im abschließenden Dokument wieder: Die Kommission schlägt eine technikoffene Regelung vor, die sicherstellen müsse, dass rechtmäßige Nutzungen, insbesondere Zitate, Parodien, Pastiche etc. nicht blockiert werden.

Kein „deutscher Sonderweg“

Von Vertretern der Rechteindustrie wurde im deutschen Gesetzgebungsverfahren immer wieder vorgetragen, dass die differenzierten Regelungen im UrhDaG einen „deutschen Sonderweg“ darstellen würden, der dem „Geist der Richtlinie“ nicht entspreche. Dies war zwar ohnehin offenkundig vorgeschoben, da noch kaum ein Land überhaupt Entwürfe vorgelegt hat und teilweise (etwa in Finnland) noch weitreichendere Beschränkungen automatisierter Blockierungen diskutiert werden. Die Leitlinien haben diesem Argument aber nun endgültig jede Grundlage entzogen. Ausdrücklich erklärt die Kommission, dass bereits verabschiedete gesetzliche Regelungen überarbeitet werden müssen, wenn sie keine Vorkehrungen enthalten, dass rechtmäßige Inhalte nicht blockiert werden. Damit dürften insbesondere die französische und die niederländische Regelung gemeint sein, die von der Rechteindustrie immer wieder als Vorbilder angeführt wurden.

Das deutsche UrhDaG versucht den Vorgaben des Art. 17 (7) DSM-RL zumindest im Ansatz Rechnung zu tragen und dies durch ein kompliziertes System prozeduraler Mechanismen und mutmaßlich erlaubter Nutzungen sicherzustellen.Bei Inhalten, die typischerweise – etwa da sie nur geringfügig sind und im Kontext eines längeren Werks erscheinen – wird gesetzlch vermutet, dass sie eine rechtmäßige Nutzung darstellen. Sie sollen nicht automatisiert blockiert werden. Doch auch im deutschen Gesetzgebungsverfahren wurde dieser Ansatz immer weiter geschleift. Schließlich wurde im allerletzten Entwurf, unmittelbar vor der abschließenden Abstimmung im Bundestag im § 14 Abs. 4 UrhDaG eine weitreichende Ausnahme von diesem System für Liveausstrahlungen eingeführt. Dies ist wohl auf Druck der Sportindustrie erfolgt, die mit der Behauptung einer besonderen wirtschaftlichen Bedeutung der zeitnahen Verwertung Druck auf den Gesetzgeber gemacht hat.

Schlupfloch „erheblicher wirtschaftlicher Schaden“

Eine ähnliche Entwicklung – mit voraussichtlich noch weiterreichenden Folgen – ist nun auch auf europäischer Ebene zu sehen. In den letzten Monaten vor der verzögerten Veröffentlichung war die Urheberrechtslobby sehr aktiv in Brüssel. Und so hat die Kommission in letzter Minute, ohne weitere öffentliche Konsultation, ein großes Schlupfloch in ihrem zentralen Ansatz starker prozeduraler Sicherstellung von Nutzerinnen- und Nutzerrechten geöffnet: Nach Vorstellung der Kommission, soll Rechteinhabern die Möglichkeit eingeräumt werden, Inhalte, bei denen die Gefahr eines „erheblichen wirtschaftlichen Schadens“ entsteht, zu kennzeichnen („Earmarking“), so dass die eigentlich vorgesehenen Vorkehrungen zum Schutz der Nutzerinnen und Nutzer nicht greifen. Dies ist sogar noch weitergehend als die deutsche Regelung zu Livemitschnitten, da sie keine inhaltlichen Anforderungen daran macht, wann denn von der Gefahr eines „erheblichen wirtschaftlichen Schadens“ auszugehen ist. Rechteinhaber, die Plattformen ihre Inhalte zur automatisierten Überwachung melden, werden jedenfalls regelmäßig davon ausgehen, dass ihre Inhalte von besonders großem Wert seien und ihnen bei möglichen Urheberrechtsverletzungen ein erheblicher Schaden entsteht. Es ist daher zu befürchten, dass Rechteinhaber von so einem Schlupfloch rege Gebrauch machen werden und alle Versuche, Nutzerinnen- und Nutzerrechte durch prozedurale Mechanismen zu gewährleisten, ins Leere laufen lassen.

Der wirtschaftliche Wert stellt eine sachfremde Erwägung bei der Entscheidung über die Blockierung eines Inhalts dar. Ein Inhalt kann entweder Urheberrechte verletzen und deshalb gegebenenfalls rechtswidrig sein oder eben nicht. Einen aktuellen Blockbuster zu parodieren ist ebenso rechtmäßig wie das Zitat eines abseitigen wissenschaftlichen Werks. Durch die Kopplung der Gewährleistung der Grundrechte der Nutzerinnen und Nutzer an den wirtschaftlichen Wert der Inhalte hat die Kommission ihr bisherige Position aufgegeben, dass die Grundrechte auf Veröffentlichung rechtmäßiger Inhalte durch geeignete Maßnahmen zu gewährleisten sind. Dies ist insbesondere deshalb erstaunlich, da sie noch in der Anhörung zur Klage der Republik Polen gegen Art. 17 (4) DSM-RL argumentiert hat, dass die Regelung die Grundrechte der europäischen Bürgerinnen und Bürger nicht verletze, solange sichergestellt sei, dass nur offensichtlich rechtswidriger Inhalt automatisiert blockiert werde. Sie untergräbt also ihre eigene Position im noch laufenden Verfahren.

Dass die Kommission nun ihre Position auf Druck der Rechteindustrie so stark aufgeweicht hat, zeigt erneut die Unmöglichkeit, die verschiedenen wirtschaftlichen Interessen und die Grundrechte von Nutzerinnen und Nutzern auf der Grundlage von Art. 17 DSM-RL gleichermaßen zu berücksichtigen. Die bisherigen Umsetzungen, insbesondere die niederländische, ungarische und französische müssen nun grundlegend auf den Prüfstand gestellt werden. Zugleich sieht die Kommission sich nicht in der Lage, Leitlinien vorzulegen, die den eigenen Ansprüchen an die Wahrung zentraler Grundrechte gerecht werden.

Insgesamt stellt die Umsetzung nach Ablauf der Umsetzungsfrist ein Debakel dar – weit davon entfernt einen gemeinsamen Wirtschaftsraum zu stärken. Klar ist lediglich, dass grundrechtswahrende Uploadfilter schlicht nicht möglich sind. Statt an dem verfehlten Art. 17 DSM-RL festzuhalten, sollte die Kommission ihre widersprüchlichen Leitlinien zurückziehen und die Initiative zur Streichung von Art. 17 und den darin vorgesehenen Uploadfiltern ergreifen.

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