Die Digitale Gesellschaft fordert den Bundestag auf, in einem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren über die Einführung der Corona-App zu entscheiden. Hierzu wenden wir uns in einem offenen Brief an die Mitglieder der Ausschüsse Digitale Agenda und Gesundheit.


Offener Brief an die Mitglieder der Ausschüsse

– Digitale Agenda,
– Gesundheit,
– Globale Gesundheit

des Deutschen Bundestages

– per E-Mail –

Berlin, den 07.05.2020

 

Auch eine dezentrale Corona-App lässt Fragen offen. Wenn überhaupt, bedarf die Einführung einer gesetzlichen Grundlage. 

Sehr geehrte Damen und Herren Bundestagsabgeordnete,

auch Sie verfolgen sicherlich die Diskussion um die „Corona-App“. Per Bluetooth-Technologie der Smartphones soll sie Kontakte zwischen Personen messen und speichern. Mit ihrer Einführung sind zentrale Entscheidungen über die Gestaltung unseres Gemeinwesens verbunden. Wir meinen, dass das Parlament darüber debattieren und entscheiden muss. Wenn überhaupt, darf die Corona-App nur auf gesetzlicher Grundlage eingeführt werden.

Dass die Bundesregierung nun die Entwicklung einer dezentralen App plant, ist auch Ausdruck eines großen Vertrauens in die eigenverantwortlich handelnden Bürgerinnen und Bürger. Zugleich schränkt diese Form der Datensammlung die Grundrechte tendenziell am maßvollsten ein – ohne individuelle Bewegungsprofile und zentral verfügbare Analysen sozialer Kontaktnetze. Jedoch bleiben – neben technischen Unklarheiten – auch bei der dezentralen Variante viele Risiken und offene Fragen, die Sie gesetzlich regeln müssen. Mit dieser App wird in Grundrechte eingegriffen. Für eine verfassungsgemäße Regelung solcher Eingriffe ist das Parlament zuständig. Sie darf weder der Regierung noch Unternehmen überlassen werden.

1. Zweckbindung: Wozu darf die App genutzt werden?

Wie die Bundesregierung schreibt, sollen mit der Corona-App „Bürgerinnen und Bürger, die Kontakt mit einem Corona-Infizierten hatten, schnellstmöglich über diesen Kontakt informiert werden.“ Für diesen Zweck muss der Gesetzgeber entscheiden, ob der Einsatz geeignet, erforderlich und angemessen ist. Die Frage der Verhältnismäßigkeit muss zudem immer neu gestellt und öffentlich debattiert werden. Eine gesetzliche Grundlage müsste eine entsprechende Zweckbindung, verbunden mit einer Auslaufklausel, festschreiben.

Jeder weitere Zweck, etwa die Sammlung von Informationen über die Ausbreitung des Virus oder die Überwachung der Quarantäne wäre unverhältnismäßig. Jede noch so kleine „Zusatzfunktion“ erhöht zudem die Komplexität der Anwendung und die potentiellen Risiken, etwa die Re-Identifizierung Einzelner durch eine freiwillige „Spende“ von Forschungsdaten.

Eine fehlende gesetzlich verankerte Zweckbindung ginge zu Lasten der Akzeptanz potentieller Nutzender. Sie könnten sich nicht darauf verlassen, dass die App in Zukunft nicht doch für Zwecke zum Einsatz kommt, die für sie mit erheblichen Nachteilen verbunden sind. Überlegungen zur digitalen Überwachung von Infizierten stehen längst an – Fußfesseln für Kranke, die so unter Generalverdacht gestellt werden. Eine Reihe von Gesundheitsbehörden haben bereits Listen von Infizierten an die Polizei weitergegeben. Ein solches Vorgehen stärkt das Misstrauen in staatliches Handeln.

2. Freiwilligkeit: Wie freiwillig kann eine Corona-App sein?

Eine Tracing-App enthält Versprechungen auf wiedergewonnene Bewegungsfreiheiten, aber sie enthält nicht minder die Gefahr von massiven Eingriffen in Grundrechte für andere Bürger und Bürgerinnen. Das ist nicht nur eine Frage der Technik, sondern vor allem eine der gesellschaftlichen Gestaltung, der Aushandlung und des Einbezugs aller Bürger und Bürgerinnen. Freiwilligkeit ist im Kontext einer solchen App alles andere als eine ausreichende Garantie.

Der gesellschaftliche Erwartungsdruck, die App zu installieren, ist schon jetzt groß, da die Geeignetheit nicht zuletzt von einer gewissen Zahl an Nutzenden abhängt. In Zukunft könnte die Nutzung sogar zur gesellschaftlichen Norm werden. Menschen, die die App bewusst ablehnen, und diejenigen, die sie gar nicht benutzen können, da sie kein kompatibles Smartphone besitzen oder sich keines leisten können, könnten von anderen geächtet werden.

Führt die Nutzung der App zu zusätzlichen Erleichterungen, steht ihre Freiwilligkeit erst Recht in Frage. Weder darf der Staat noch dürfen Arbeitgeber oder private Unternehmen die App zur Eintrittskarte werden lassen. Eine Deinstallation der App muss jederzeit gewährleistet sein. Den Rahmen für eine freiwillige Nutzung kann deshalb, wenn überhaupt, nur der Gesetzgeber garantieren. Eine individuelle Einwilligung scheidet aus.

3. Umgang mit der App: Was passiert, wenn?

Die dezentrale Lösung hat den Vorteil, dass nur die App-Nutzenden selbst erfahren, wenn sie sich in der Nähe von einem positiv Getesteten aufgehalten haben – vorausgesetzt sie hatten ihr Smartphone stets dabei. Es soll keine staatliche oder private Instanz geben, die Zugriff auf diese Information hat. Der mündige Bürger und die mündige Bürgerin entscheiden selbst, was sie mit dieser Information machen. Doch was sind ihre Handlungsoptionen?

Stehen ausreichende und gesicherte kostenlose Testmöglichkeiten zur Verfügung? Können sich Personen auch ohne Hinweis auf die Ergebnisse der Tracing-App testen lassen? Wird die Technologie ihnen eine bestimmte Umgangsweise vorschlagen? Wird ihnen geraten werden, möglicherweise zum wiederholten Male in Quarantäne zu gehen? Hier stellt sich auch die Frage der Verlässlichkeit der Kontaktmessungen und den daraus folgenden Berechnungen und Empfehlungen. Wie werden Arbeitgeber mit Arbeitsausfällen umgehen, insbesondere wenn kein Homeoffice möglich ist? Die Nutzenden könnten so unter Druck gesetzt werden, die Informationen der App zu ignorieren.

Die Freiheit der Bürgerinnen und Bürger ist ersichtlich verbunden mit einer hohen Verantwortung. Das ist gut so, macht aber um so mehr gute Beratung, Begleitung und Hilfestellung notwendig. Diese ist allerdings nicht an Technik zu delegieren, sondern muss organisiert werden.

Aus all diesen Gründen muss der Gesetzgeber die Entwicklung selbst in die Hand nehmen, den Nutzen öffentlich diskutieren und die Entwicklungen transparent darstellen. In der Zivilgesellschaft wird bereits über die konkrete Ausgestaltung eines Gesetzentwurfs diskutiert. Der Gesetzgeber sollte diese Diskussion aufgreifen und demokratisch über das Ob und Wie der Corona-App entscheiden.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Elke Steven, Geschäftsführerin Digitale Gesellschaft e. V.
Benjamin Bergemann, Vorstand Digitale Gesellschaft e. V.