Mit einer bemerkenswerten Rede hat sich Präsident Obama heute in die US-Debatte um die Netzneutralität eingebracht. Dort arbeitet die Regulierungsbehörde FCC aktuell an Regeln für den Umgang mit den seitens der Telekommunikationsunternehmen propagierten Überholspuren im Netz. Obama regte an, diese Unternehmen als “common carrier” im Rahmen des US-Telekommunikationsrechts einzustufen, um der FCC wirksame Mittel gegen das Blockieren oder die Verlangsamung von Netzzugängen in die Hand zu geben. Als “common carrier” werden Unternehmen bezeichnet, die gesamtgesellschaftlich bedeutsame Leistungen erbringen. Sie unterliegen in den USA deshalb einem besonderen Diskriminierungsverbot.
Von Obamas zutreffendem Verständnis des Netzes als infrastrukturelle Grundlage der Informationsgesellschaft und der Netzneutralität als Eckpfeiler eines offenen Internet sind die politisch Verantwortlichen in Deutschland und Europa leider immer noch weit entfernt. So bewies etwa Bundeskanzlerin Merkel auf dem Nationalen IT-Gipfel mit ihrer Aussage, die Netzneutralität werde erst in einem voll ausgebauten Glasfasernetz zum Problem, dass sie noch nicht einmal im Ansatz begriffen hat, worum es eigentlich geht. Auch Bundeswirtschaftsminister Gabriel machte durch seine widersprüchlichen Aussagen zur Regulierung der Spezialdienste deutlich, dass der Bundesregierung ein durchdachtes Konzept zur Sicherung der Netzneutralität fehlt.
Ein Initialfehler der Bundesregierung liegt bereits darin, den Breitbandausbau im Wesentlichen den Telekommunikationsunternehmen zu überlassen. Die Politik begibt sich damit bei einer zentralen Aufgabe der Daseinsvorsorge in eine gefährliche Abhängigkeit von Wirtschaftsunternehmen, deren Interesse vornehmlich in der Maximierung des eigenen Gewinns besteht. Um die nötigen Investitionsmittel für den Breitbandausbau erwirtschaften zu können, so das hartnäckig vorgetragene Mantra der Unternehmen, müsste die Netzneutralität eingeschränkt und Überholspuren im Netz ermöglicht werden.
Die Telekommunikationsunternehmen werden auch nicht müde, den Abbau der Netzneutralität mit immer neuen vernebelnden Wortschöpfungen voranzutreiben. Zunächst wurden die Überholspuren unter der Bezeichnung “Spezialdienste” propagiert. Im März dieses Jahres beschloss das Europäische Parlament allerdings eine Definition der Spezialdienste, wonach diese nur gänzlich getrennt vom offenen Internet betrieben werden dürfen. Die Aussicht, den Datenverkehr im offenen Internet künftig über Spezialdienste priorisieren zu können, war damit deutlich eingetrübt. Mit dem Schlagwort “Qualitätsklassen” versuchen die Provider nun erneut, der Politik eine unterschiedliche Behandlung der Datenpakete im Netz schmackhaft zu machen. Gemeint ist mit diesem neuen Kampfbegriff, dass die Daten zahlungskräftiger Nutzerinnen und Nutzer im offenen Internet schneller und in besserer Qualität transportiert werden als die weniger finanzstarker Kundinnen und Kunden.
Frei nach dem Motto “wer mehr zahlt, bekommt auch mehr” wollen die Provider mit dem Begriff der “Qualitätsklassen” den Eindruck erwecken, dass sie gegen höhere Gebühren auch ein Mehr an Leistung für Verbraucherinnen und Verbraucher erbringen. In der tatsächlichen Umsetzung erreichen die Unternehmen unterschiedliche Qualitätsklassen aber durch künstliche Drosselung und Beschränkung der Netzzugänge, also durch eine gezielte Verringerung des Leistungsumfangs. Im Mobilfunkbereich ist diese Praxis bereits heute üblich. Hier wird auch deutlich, wie falsch der von den Unternehmen gern herangezogene Vergleich des Netzes mit Autobahnen ist: wer schneller fährt, bezahlt auch mehr (etwa für Benzin), warum sollte das im Netz anders sein? Weitaus näher an der Realität ist da die Vorstellung, der Autobahnbetreiber stelle willkürlich Geschwindigkeitsbegrenzungen für einzelne Fahrspuren auf, nur um die gesondert zu bezahlende Überholspur besonders attraktiv erscheinen zu lassen.
Reißt die Praxis der Überholspuren im offenen Internet ein, so wird dies allenfalls für die Telekommunikationsunternehmen von ökonomischem Vorteil sein. Verbraucherinnen und Verbraucher hingegen werden sich einem neuen Tarifdschungel gegenübersehen, wie dies bereits aus dem Mobilfunkbereich leidlich bekannt ist. Zu einem Paket für den Basiszugang kommen dann zusätzliche Pakete für einzelne Onlinedienste, beispielsweise um eine ruckelfreie Wiedergabe für HD-Videos zu ermöglichen, hinzu. Für Nutzerinnen und Nutzer ist damit nur schwer kalkulierbar, wieviel sie ihr Netzzugang im Ergebnis kosten wird und welcher Anbieter am Markt für ihre Bedürfnisse tatsächlich der günstigste ist.
Gravierende nachteilige Auswirkungen dürfte die Einführung der sogenannten Qualitätsklassen auch auf die gesamte europäische IT-Wirtschaft haben. Die Telekommunikationsunternehmen wollen damit nämlich nicht nur Nutzerinnen und Nutzer, sondern auch die Anbieter von Onlinediensten zur Kasse bitten. Letztere sollen für eine schnelle und qualitativ hochwertige Durchleitung ihrer Daten zum Kunden zahlen und sich so an den Infrastrukturkosten beteiligen. Dabei übersehen die Provider, dass sämtliche großen, etablierten Onlinedienste in den USA und damit außerhalb Europas sitzen. Diese könnten sich die zusätzlichen Kosten für eine priorisierte Durchleitung ihrer Daten ohne Weiteres leisten, während sich die finanzielle Hürde gerade für junge IT-Unternehmen als Markteintrittsbarriere und Wettbewerbshindernis erweist. Europäische Startups würden damit gegenüber der Konkurrenz aus Übersee weiter ins Hintertreffen geraten. Dem von Bundeswirtschaftsminister Gabriel ausgegebenen Ziel, Deutschland zum IT-Standort Nummer Eins zu machen, wäre damit nicht nur ein Bärendienst erbracht, zugleich würde damit die IT-Wirtschaft in ganz Europa zurückgeworfen.
Es ist daher dringend geboten, dass sich die politisch Verantwortlichen in Deutschland und Europa eingehend mit der Betrachtungsweise von Präsident Obama auseinandersetzen und den Breitbandausbau als Kernaufgabe der Daseinsvorsorge in einer digitalen Gesellschaft begreifen. Daraus folgt, dass zu allererst der Staat die Verantwortung für eine flächendeckende Versorgung mit schnellen Netzzugängen trägt und sie in einer Art und Weise wahrnehmen muss, die nicht zu Lasten der Diskriminierungsfreiheit des Netzes geht. Die Bundesregierung muss sich dazu aus dem Würgegriff der Telekommunikationsunternehmen befreien und die Netzneutralität verteidigen, statt sie scheibchenweise zu Grabe zu tragen. Im EU-Ministerrat muss sie für eine starke Gewährleistung der Netzneutralität eintreten und jeglicher Form von Drosselungen, Blockaden und sonstiger Beeinträchtigungen des offenen Internet eine klare Absage erteilen.