Über 80 Bürgerrechts- und Verbraucherschutzorganisationen forderten die EU-Kommission heute auf, endlich EU-weit das Prinzip der Netzneutralität zu sichern. Unser Dachverband European Digital Rights (EDRi) warnte zusammen mit der europäischen Verbraucherschutzorganisation (BEUC) in einem heutigen Brief, dass freie Kommunikation und Meinungsäußerung immer mehr eingeschränkt und immer häufiger in die Offenheit und Neutralität des Internets eingegriffen werde. Nachfolgend der Brief von EDRi und BEUC in der deutschen Übersetzung:

Ohne Netzneutralität kein Internet

Offenheit und Neutralität sind die Grundlage für die Architektur und das Funktionieren des Internets wie wir es kennen. Diese Prinzipien ermöglichen es mit dem Internet gesellschaftliche Teilhabe, Vielfalt und Zugang zu Wissen auf noch nie dagewesene Weise zu verbessern. Gleichzeitig werden Wirtschaftswachstum, demokratische Partizipation und Innovation zum Vorteil aller Bürgerinnen und Bürger, Konsumenten, kleiner und großer Unternhmen gleichermaßen gefördert.

Netzneutralität ist das Prinzip, dass Netzbetreiber elektronische Datenpakete in ihrem Netzwerk weder behindern noch blockieren dürfen, sondern dass sie diese gleich behandeln müssen, unabhängig von Inhalt, Anwendung, Dienst, Gerät, Ursprung oder Ziel. Die dezentrale Erstellung von Content, Internetanwendungen und Dienstleistungen sind entscheidend für die Entwicklung der europäischen Onlinewirtschaft und gedeiht nur solange das Internet neutral bleibt. Aus diesem Grund leistet die Trennung von Netzwerk- und Anwendungsebene einen echten Beitrag zu ökonomischen Effizienz und würde von einem starken Schutz der Netzneutralität profitieren.

Netzneutralität wird quer durch Europa verletzt

Netzbetreiber haben wiederholt Netzneutralität durch restriktive Geschäftspraktiken verletzt. Die gesamte Branche bewegt sich in die falsche Richtung: hin zu einer fragmentierten Online-Umgebung, wo Innovatoren nicht mehr über die gleichen Zugangsmöglichkeiten verfügen. Stattdessen sind sie von kommerziellen Vereinbarungen und Praktiken auf Infrastrukturebene abhängig und viele Endnutzer können nicht mehr für sich selbst entscheiden, was sie mit Hilfe eines Internetzugangs nutzen möchten.

Die europäischen Telekommunikationsunternehmen und Internetanbieter, insbesondere im Mobilfunkbereich, nutzen immer ausgefeiltere Maßnahmen um den freien und neutralen Internetzugang ihrer Kundinnen und Kunden zu Gunsten des eigenen kommerziellen Interesses zu verletzen. Das gezielte Priorisieren oder Drosseln einzelner Dienste, Anwendungen oder Protokolle ist aus technischen Gründen, wie etwa zur Lastverteilung, nicht zwingend notwendig und repräsentiert das Gegenteil eines neutralen Internets, in dem jedes Datenpaket gleich behandelt wird. Das Gremium Europäischer Regulierungsstellen für elektronische Kommunikation [1] sowie die Bürgerplattformen Glasnost [2] und RespectMyNet [3] haben eindeutige Beweise gefunden, dass es bereits heute zu vielfältigen und schweren Verletzungen der Netzneutralität in Europa kommt.

Europa darf alte Fehler nicht wiederholen

Die zögerliche Haltung der Europäischen Kommission konnte bereits in anderen Telekommunikationsmärkten wie etwa der Entbündelung der Teilnehmeranschlussleitung („letzte Meile“), das Gesprächs- sowie das Datenroaming ein marktschädigendes Verhalten nicht verhindern. Letztendlich musste die Europäische Kommission echten Wettbewerb durch die Implementierung und Exekution von Regulierungsmaßnahmen gewährleisten. Dieses zögerliche Verhalten hat die europäischen Bürgerinnen und Bürger sowie die kleinen und mittleren Unternehmen Milliarden gekostet [4]. Wie in der Vergangenheit mahnen die Netzbetreiber, dass eine übermäßige Regulierung Investitionen verhindern würde. Jedoch hat der Industriesektor bis dato von der Neuregulierung der „letzten Meile“ deutlich profitiert – die Märkte sind nun wesentlich wettbewerbsfreundlicher geworden. Das selbe Phänomen zeichnet sich nun auch bei der Netzneutralität ab, wo die Entscheidungsschwäche der Europäischen Kommission eine klare Regelung im Sinne eines neutralen Netzes verhindert. Es liegt nun in der Hand der europäischen Politikerinnen und Politiker alte Fehler nicht ein zweites Mal zu begehen.

Wettbewerb und Transparenz: notwendig aber ineffizient

Die Europäische Kommission möchte die Netzneutralität allein durch Wettbewerb und verbesserte Transparenz schützen. Diese Entscheidung führt in die falsche Richtung. Obwohl dies zwingende Mechanismen für einen funktionierenden, gesunden Markt sind, verschaffen sie den Bürgerinnen und Bürger nicht den Zugang zu einem offenen und neutralen Internet, indem sie ihr Recht auf eine freie Meinungsäußerung und Informationsfreiheit wahrzunehmen können. Nutzerinnen und Nutzer, nicht die Internetprovider, sollten entscheiden dürfen, wie sie ihren Internetanschluss nutzen.

Ein neutrales Internet ist ein wichtiges Instrument um einen starken und gesunden Wettbewerb zwischen den Netzanbietern – auf Grundlage von Bandbreite und Datenbeschränkungen – zu gewährleisten. Traffic Management, wie es heutzutage vorgenommen wird, ist den Nutzerinnen und Nutzern häufig nicht bekannt und sie kennen dessen technische Funktionsweise nicht [5]. Traffic Management nimmt im Wettbewerb also nicht den gleichen Stellenwert ein, wie etwa der Preis und die beworbene Geschwindigkeit. Deshalb darf der Regulierungsrahmen nicht allein auf die Marktmechanismen und die Transparenz vertrauen. Sogar wenn davon ausgegangen wird, dass ein Providerwechsel ohne Hindernisse möglich sein sollte und weitestgehende Transparenz über die providerspezifischen Verletzungen der Netzneutraltität herrscht, würde keine zufriedenstellende Lösung erzielt werden. Es kann nicht im Sinne der europäischen Kommission sein, dass ihre Bürgerinnen und Bürger lediglich die Wahl zwischen den Internetanbietern ihres geringsten Misstrauens haben.

In einem gesunden Wettbewerb, versetzen Transparenz und einfache Wechselmöglichkeiten die Kundinnen und Kunden in die Lage mit ihren Füßen abzustimmen und einen Providerwechsel vorzunehmen. Es hat sich inzwischen als Fehler erwiesen, dass allein durch  einfache Wechselmöglichkeiten ein gesunder Wettbewerb garantiert wird.

Nicht nur auf Seite der Endkunden sind der Wirkung von Transparenz und einfachen Wechselmöglichkeiten Grenzen gesetzt: momentan sind Internetanbieter in die Lage versetzt, den Internetzugang von europäischen, kleinen Unternehmen und Start-ups, die einen Onlineservice entwickeln möchten, zu drosseln oder blockieren. Eine transparente Information für das jeweilige junge Unternehmen darüber, dass ihr Onlineservice gedrosselt wird, vermag das Problem an dieser Stelle nicht zu lösen. Investoren werden an dieser Stelle lediglich einen kleineren Markt für ihre Dienste erkennen. Beispielsweise könnten NGOs oder Start-ups die Endkunden eines bestimmten Internetanbieters nicht erreichen, da ein nicht-neutrales Internet durch eine gesteigerte Transparenz keine Besserung erfährt.

Wir müssen jetzt handeln

Wenn wir uns lediglich auf den Markt und Transparenzregeln verlassen, haben wir in wenigen Jahren ein Internet-Oligopol. Das schadet sowohl Verbrauchern und Bürgern, als auch dem gesamten digitalen Markt. Die bereits jetzt vielfach berichteten Verletzungen der Netzneutralität verlangen von uns ein zeitnahes und auf Beweisen beruhendes Einschreiten.

Wir fordern die EU-Kommission auf, sich mit folgenden Themen zu beschäftigen und dabei, wenn angemessen, auch Gesetzesinitiativen in betracht zu ziehen:

  • Alle Endpunkte des Internets müssen ohne irgendeine Form ungesetzlicher Einschränkungen erreichbar sein.
  • Klarheit, welche Arten von Traffic Management unter welchen Umständen zulässig sind.
  • Ein generelles Verbot von diskriminierendem Traffic Management wie Drosselung oder Blockieren (außer durch gesetzlich festgelegte Regeln), sowie ein Verbot der Verletzung des Ende-Zu-Ende-Prinizips.
  • Traffic Management sollte nur in technischen Ausnahmenfällen angewendet werden.
  • Ein klarer Satz an Verpflichtungen für ISPs bezüglich Neutralität und der Qualität des Services von Internetbreitbanddiensten. Es muss zugängliche, komplette Informationen über Traffic-Management-Praktiken geben und die Begründungen müssen veröffentlicht werden sowie für den Endnutzer leicht zugänglich sein.
  • Die pro-aktive Überwachung durch eine unabhängige Institution des Qualitätsservices von festen und drahtlosen Netzwerken. Diese Institution kann die NRA sein.
  • Die Verwendung von Deep Packet Inspection (und der Wiederverwendung von zugehörigen Daten) sollte von den nationalen Datenschutzbehörden überprüft werden, um die Einhaltung des EU-Datenschutzes und die Grundrechte als Rahmen zu wahren. Standardmäßig sollten nur Header-Informationen für das Traffic Management verwendet werden.
[1] https://ec.europa.eu/digital-agenda/sites/digital-agenda/files/Traffic%20Management%20Investigation%20BEREC_2.pdf

[2] Glastnost test results visualized, net neutrality map – www.netneutralitymap.org

[3] RespectMyNet: http://respectmynet.eu

[4] ETNO annual report, p.11 http://www.etno.eu/Portals/34/publications/annual%20reports/Annual%20Report2000.pdf

[5] For example Consumer Focus report Lost on the broadband super highway , that investigated consumer understanding of information on traffic management, concludes that increased transparency alone is unlikely to safeguard effectively the open Internet and prevent discriminatory restrictions online; http://www.consumerfocus.org.uk/files/2012/11/Lost-on-the-broadband-super-highway.pdf