Als Reaktion auf die Entscheidung der Kommission (EK), den Entwurf zum ACTA-Abkommen dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) zur Entscheidung vorzulegen, haben die Bürgerrechtsorganisationen EDRi (European Digital Rights) und Access Antworten auf die wichtigsten Fragen zum Thema verfasst. Unwatched.org hat diese freundlicherweise übersetzt:

1. Wieso kann die Europäische Kommission ACTA dem EuGH vorlegen?

Die Möglichkeit zur Einholung eines Gutachtens über die Vereinbarkeit einer geplanten Übereinkunft beim Europäischen Gerichtshof ist in Artikel 218 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union vorgesehen. Das Gutachten kann von einem Mitgliedsstaat, dem Europäischen Parlament, vom Rat oder von der Kommission eingeholt werden.

Es kommt zwar immer wieder einmal vor, dass die Kommission dem EuGH internationale Abkommen zur Prüfung vorlegt. Allerdings ist es äußerst unüblich, dass die Kommission ein Abkommen prüfen lässt, nachdem sie zuvor unmissverständlich erklärt hat, dieses sei ohnehin rechtmäßig.

2. Ist das eine gute oder eine schlechte Nachricht?

Alles ist möglich.

ACTA ist ein sehr komplexes Abkommen, das eine breite Palette politischer Maßnahmen umfasst. Diese Komplexität wird noch durch die vielen optionalen Bestimmungen und die vagen, konfusen Formulierungen gesteigert.

Eine allgemeine, wenig zielgerichtete Formulierung der Frage, ob das Abkommen als ganzes mit EU-Recht vereinbar ist, könnte zu breit gefasst sein, so dass der Gerichtshof möglicherweise keine genaueren Überlegungen zu den vielen heikleren Punkten anstellen würde. Eine politisch motivierte Fragestellung könnte die Unabhängigkeit des Gerichts in Frage stellen.

Viele ACTA-Proponenten sehen daher in der Vorlage beim EuGH eine gute Strategie, denn eine Billigung durch das Gericht könnte als „Beweis“ dafür verkauft werden, dass es kein Problem mit dem Abkommen gibt – auch wenn sich die Entscheidung gar nicht mit jenen kleinen Bereichen von ACTA befasst, gegen die Bedenken bestehen.

Weil der EuGH ungefähr 12 bis 18 Monate für seine Entscheidung benötigen wird, hoffen die Proponenten außerdem, dass sich der Streit bis dahin beruhigt haben und es dann leichter sein wird, das Abkommen auf EU-Ebene zu verabschieden.

3. Warum hat sich die EK zu einer Anrufung des EuGH entschlossen?

Laut einem Protokoll (das EDRi vorliegt) zu einer Sitzung der Kabinettschefs war die EK von den ACTA-Protesten einigermaßen beeindruckt und erklärte die „starke Mobilisierung“ gegen das Abkommen mit „bestimmten NGOs und Bewegungen im Internet“. Daraus erwachsen der Kommission drei Probleme:

a. Der nicht unwahrscheinliche Fall, dass das Europäische Parlament (EP) das Abkommen ablehnt
Die wachsende Opposition in der Bevölkerung und unter den Mitgliedsstaaten hat zu der sehr realen Möglichkeit geführt, dass das EP bei der für Juni geplanten Abstimmung „Nein“ zu ACTA sagen, und damit das Abkommen effektiv zu Fall bringen würde.

b. Die Überarbeitung der Urheberrechtsrichtlinie (2004/48/EG)
Die Kommission plant für diesen Sommer eine Mitteilung über die Überarbeitung der Richtlinie zum Schutz der Rechte an geistigem Eigentum (IPRED). Die zuständigen Dienste der Kommission befürchten nun, dass die massiven Kampagnen rund um die ACTA-Abstimmung zu große Aufmerksamkeit für die sehr weitreichende und problematische Richtlinie erzeugen könnten.

c. Tatsächliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit von ACTA
Auch innerhalb der Kommission kommen immer mehr Zweifel darüber auf, ob ACTA mit den nationalen und internationalen Verpflichtungen der EU in Bezug auf Redefreiheit und Rechtmäßigkeit vereinbar ist.

4. Welche Fragen werden dem EuGH vorgelgt?

Die Frage(n) werden sich darauf beziehen, ob ACTA mit primärem Unionsrecht (den Verträgen, auf denen die Europäische Union beruht) vereinbar ist.

Laut der Erklärung von Kommissar De Gucht plant die EK das Gericht zu fragen, ob ACTA „in irgendeiner Weise mit den Grundrechten und Grundfreiheiten der Union, wie dem Recht auf freie Meinungsäußerung, Informationsfreiheit oder Datenschutz sowie dem Recht auf Eigentum in Bezug auf das Urheberrecht“ unvereinbar ist.

Zusätzlich zur jüngsten Stellungnahme von Kommissarin Reding, in dem sie Bedenken wegen der möglichen Auswirkungen von ACTA auf die Grundrechte äußert, wäre es logisch, diese Vorbehalte in der Vorlage an den EuGH zu berücksichtigen. Wird dieses Versprechen nicht eingehalten und decken die Fragen diese Bedenken nicht ab, muss Kommissar De Gucht dafür gerade stehen.

5. Welche Bereiche würde die Vorlage nicht abdecken?

a. Vereinbarkeit mit bestehendem Unionsrecht
Das größte Problem in Bezug auf die Befassung des EuGH ist, dass die Entscheidung des Gerichts als Antwort auf alle Fragen und Bedenken gegen ACTA dargestellt werden wird. In Wahrheit kann sich die Entscheidung aber nur auf die Vereinbarkeit des Abkommens mit den EU-Verträgen beziehen und nicht mit dem gesamten Rechtsbestand der Union (also mit allen Richtlinien, Verordnungen etc.)

Dieser Punkt ist insofern von Relevanz, weil die EK stets behauptet, ACTA stehe in völligem Einklang mit bestehendem EU-Recht. Dies wird behauptet, obwohl zahlreiche Untersuchungen, so auch eine Studie des Europäischen Parlaments, zu dem Ergebnis gekommen sind, dass dem nicht so ist.

b. Das Einfrieren bestehender EU-Rechtsakte
Die Urheberrechtsrichtlinie (IPRED) ist vor acht Jahren verabschiedet worden, eine Überarbeitung ist nun in Vorbereitung. Die EK hat aber wichtige Bestandteile dieser Richtlinie in das ACTA-Abkommen aufgenommen, was dazu führt, dass diese nicht mehr wesentlich verändert werden können, wenn ACTA einmal angenommen ist – ungeachtet dessen, ob im Zuge der Überprüfung der Richtlinie erhebliche Mängel zu Tage treten oder nicht. Die Rechtssache ACS:Law gibt einen Eindruck, wie fehlerhaft die Richtlinie tatsächlich ist (unwatched berichtete).

c. Auswirkungen neuer strategischer ACTA-Maßnahmen in ACTA
Während die Urheberrechts- und die E-Commerce-Richtlinie (2000/31/EG) (Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr) einen Verhaltenskodex im Umgang mit Verstößen gegen geistige Eigentumsrechte vorgeben (technische Maßnahmen im Falle von IPRED sowie wohl überlegtes, rechtlich abgesichertes Vorgehen im Falle der E-Commerce-Richtlinie), verpflichtet ACTA die Unterzeichner dazu, private Marktteilnehmer zu „kooperativen Maßnahmen“ zur strafrechtlichen Rechtsdurchsetzung zu drängen.

Die EU weiß bereits, was „kooperative Maßnahmen“ in der Praxis bedeuten, denn es liegen etliche aussagekräftige Beispiele dafür vor, die unter ACTA-Bedingungen zur Regel werden könnten. Dazu zählen:

* das außer-gerichtliche „Three-Strikes“-Verfahren in Irland
* die willkürliche Verhängung von Netzsperren im Vereinigten Königreich, von der Software zum Schutz iranischer Aktivisten (https://www.torproject.org/) ebenso betroffen ist wie die französische Aktivisten-Drehscheibe La Quadrature Du Net
* der von der französischen Regierung ausgeübte Druck auf Hosting Provider, die Wikileaks nicht zu hosten
* die Leichtigkeit, mit der Fachleute aufzeigen konnten, dass es in den Niederlanden möglich ist, legale Websites zu löschen.

6. Welchen Ausgang wird das Verfahren nehmen?

Wenn der EuGH zu den Schluss kommt, dass ACTA nicht mit den EU-Verträgen vereinbar ist, gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder müssen die Verträge geändert oder ACTA aufgegeben werden.

Wenn der EuGH zu den Schluss kommt, dass ACTA tatsächlich mit den EU-Verträgen vereinbar ist, wird der Ratifizierungsprozess fortgesetzt. Für die Ratifizierung auf EU-Ebene ist die Zustimmung des Europäischen Parlaments weiterhin erforderlich und wegen der in ACTA vorgesehenen strafrechtlichen Sanktionen ist auch die Ratifizierung durch die einzelnen Mitgliedsstaaten von Nöten.

Der Ausgang des Verfahrens ist allerdings schwer abzuschätzen. Vieles wird davon abhängen, wie die Fragen formuliert sind (siehe Fragen 2 & 4). Ein Blick auf neuere Entscheidungen des EuGH kann Hinweise geben. In zwei aktuellen Rechtssachen (Scarlet/Sabam – Rechtssache C-70/10 und Netlog/Sabam – Rechtssache C360/10) hat das Gericht klar gemacht, dass „sich weder aus dieser Bestimmung selbst noch aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs [ergibt], dass dieses Recht schrankenlos und sein Schutz daher bedingungslos zu gewährleisten wäre“.

Das Gericht entschied, dass eine fairer und angemessener Ausgleich nicht erreicht wurde und dass der Schutz geistiger Eigentumsrechte nicht zu Lasten der Grundrechte wie der Kommunikationsfreiheit (Recht auf freien Empfang oder freie Sendung von Informationen), dem Schutz personenbezogener Daten und der unternehmerischen Freiheit gehen dürfe.

Demgegenüber verstoßen weite Teile von ACTA gegen Grundrechte ohne den Verstoß konkret vorzuschreiben. So könnte der EuGH genötigt sein, zu dem Schluss zu kommen, dass ACTA zwar gegen den Geist, aber nicht gegen den Buchstaben des Unionsrechts verstößt.

7. Wie viel Zeit wird der EuGH für die Entscheidung benötigen?

Im Allgemeinen fällt der Europäische Gerichtshof seine Entscheidungen innerhalb von 12 bis 24 Monaten. Einige europäische Entscheidungsträger hoffen aber auf ein schnelleres Ergebnis. Viel wird davon abhängen, welche Optionen der EuGH prüfen wird und wie die gestellten Fragen ausgerichtet sind.

8. Wird die Debatte im Europäischen Parlament in der Zwischenzeit fortgesetzt?

Der Europaabgeordnete David Martin, der Berichterstatter über ACTA im EP, hat erklärt, das Parlament wolle die Entscheidung des EuGH abwarten.

Der Ratifizierungsprozess im EP ist aber nicht offiziell ausgesetzt. Dies wäre nur dann der Fall, wenn das Parlament ACTA gemeinsam mit der Kommission dem EuGH zur Prüfung vorlegt. Eine Entscheidung, wie das Parlament in der Zwischenzeit vorgehen will, ist noch nicht gefallen.

9. Bedeutet das, dass alle Mitgliedsstaaten die Ratifizierung automatisch aussetzen?

Nein. Nachdem die Vorlage beim EuGH darauf hindeutet, dass viele rechtliche Unsicherheiten in Bezug auf ACTA bestehen, wäre es aber mehr als unklug, ein Abkommen zu ratifizieren, dessen Rechtmäßigkeit erst durch den EuGH geprüft werden muss.

10. Wie wird die Vorlage beim EuGH die Überarbeitung von EU-Richtlinien (wie IPRED) beeinflussen?

Derzeit wird eine Reihe von EU-Rechtsakten überarbeitet und modernisiert, allen voran die Urheberrechtsrichtlinie IPRED, die einer grundlegenden Reform bedarf. Viele Schlüsselelemente der Richtlinie, die Grundrechte wie den Zugang zu Nutzerdaten berühren, sind auch Bestandteil des ACTA-Abkommens. Mit der Vorlage beim EuGH sind Kommission und Europäisches Parlament nicht mehr gezwungen, sich an die unnötig strengen Durchsetzungsstandards – wie sie in ACTA vorgesehen sind – zu binden.

11. Was ist zu tun, während wir auf die Entscheidung des EuGH warten?

Nachdem der Entscheidungsprozess mehrere Monate in Anspruch nehmen wird (bis zu zwei Jahre sind möglich), sollte die Kommission eine unabhängige Abschätzung der Auswirkungen, die ACTA unweigerlich auf die Rechte der Bürger, die europäische Wirtschaft und auch auf Länder außerhalb der Union haben wird, vornehmen.

Die Mitgliedsstaaten können sich außerdem an der Eingabe beim EuGH beteiligen, was auch die Vorlage des eigenen Standpunkts beinhaltet. Die Unterstützung für ACTA steht in etlichen Mitgliedsstaaten – wie in Polen, Bulgarien, Deutschland und den Niederlanden – auf wackligen Beinen. Deshalb wäre es wichtig, dass diese Länder ihre Bedenken auch direkt dem Gericht gegenüber äußern.

[Englischer Originalbeitrag: EDRi, Übersetzung: unwatched]