Berlin, 13. November 2025: Heute haben 128 zivilgesellschaftliche Organisationen einen offenen Brief an die EU-Kommission gesandt, in dem sie vor den Gefahren warnen, die von den anstehenden Deregulierungsplänen der Europäischen Union ausgehen.
Das englische Original mit einer Liste aller unterzeichnenden Organisationen findet sich hier und hier (PDF). Die deutsche Übersetzung hier und hier (PDF).
Die EU-Kommission plant im Rahmen des sogenannten „Digitalen Omnibus“ tiefe Einschnitte in grundlegende Rechte der europäischen Bevölkerung im digitalen Raum. Im Eilverfahren sollen zentrale Bausteine des Schutzes vor übergriffigem staatlichen Handeln und umfassender kommerzieller Überwachung entfernt werden und den mehr als fragwürdigen Praktiken einer umstrittenen KI-Industrie ein weitgehender Freifahrtschein erteilt werden.
Der kommerzielle Handel mit sensiblen Daten durch die Werbewirtschaft würde weitgehend legalisiert und damit nicht nur der Datenschutz der europäischen Bevölkerung, sondern auch die Sicherheit aller gefährdet, da diese Daten ohne weiteres auch zu kriminellen und Spionage-Zwecken genutzt werden können.
Statt einer Stärkung des gemeinsamen Rechtsrahmens und der Rechtssicherheit für Vereine, öffentliche Institutionen und die Wirtschaft, würden die problematischen Geschäftsmodelle nicht zuletzt großer Tech-Unternehmen und der Tracking-Industrie gestärkt.
Insbesondere die deutsche Bundesregierung hat auf einige der geplanten Änderungen gedrängt. Während fast alle anderen EU-Staaten allenfalls kleine Änderungen befürworten würden und vielmehr Mechanismen für eine einheitliche und effektive Durchsetzung anmahnen, drängt die Bundesregierung auf eine weitgehende Abschaffung von Betroffenenrechten, womit sie offenkundig bei der Kommission unter Ursula von der Leyen auf offene Ohren gestoßen ist.
Dazu erklären:
Ella Jakubowska, European Digital Rights (EDRi): „Wir sind bereits meilenweit davon entfernt, dass die Kommission glaubhaft behaupten könnte, dies würde die Dinge vereinfachen. Dies ist ein umfassender Angriff auf unsere Grundrechte und bürgerlichen Freiheiten, der die digitale Welt für Kinder und Erwachsene gleichermaßen unsicherer machen würde.“
Tom Jennissen, Digitale Gesellschaft e.V.: „Die geplanten Änderungen stellen keine Vereinfachungen in der Praxis dar. Sie zielen einzig auf den Abbau von Betroffenenrechten und die Legalisierung problematischer Geschäftspraktiken. Gerade die Rolle der Bundesregierung ist äußerst bedenklich: Statt die Probleme der Digitalisierung in Deutschland endlich effektiv anzugehen, wird mal wieder alle Schuld auf den Datenschutz geschoben. In der nächsten Woche wird die Bundesregierung mit großem Popanz den „europäischen Gipfel zur digitalen Souveränität“ veranstalten. Doch statt sich endlich aus der Abhängigkeit von Big Tech zu lösen, schleift sie hinter den Kulissen den Rechtsrahmen, der genau diese Tech-Unternehmen unter Kontrolle halten soll.“
Svea Windwehr, Co-Vorsitzende von D64 – Zentrum für Digitalen Fortschritt: „Wer digitale Souveränität will, aber Grundrechte opfert, verspielt die Jahrhundertchance, die digitale Transformation demokratisch, offen und fair zu gestalten. Europäische Digitalregulierung abzubauen, kommt in erster Linie den Hyperscalern zugute. Diese stemmen sich vehement gegen strengere Wettbewerbsregeln, bessere Nutzer:innen-Rechte und zumindest grundlegende Regeln für KI.“
Elina Eickstädt, Sprecherin des Chaos Computer Club: „Bürger*innen sollen entmachtet, sensible Daten freigegeben und die fragwürdigen Praktiken der KI-Industrie legalisiert werden. Statt an einer digitalen Zukunft für alle zu arbeiten, verkauft die Kommission unsere Grundrechte und überlässt Tech-Konzernen die Kontrolle.“
Lena Rohrbach, Referentin für Menschenrechte im digitalen Zeitalter bei Amnesty International: „Leider erweist sich der Omnibus als Wolf im Schafspelz: Unter dem Deckmantel des Bürokratieabbaus werden demokratische Errungenschaften, die Menschenrechte schützen, rückabgewickelt. Der Digitale Omnibus setzt die Interessen großer Tech-Unternehmen durch, nicht die der Bevölkerung. Das Reden über europäische Werte verkommt zur hohlen Phrase, wenn abgebaut wird, was diese Werte schützt.“
Felix Duffy von Lobbycontrol: „Mit großem Lobbydruck versuchen die Tech-Konzerne seit Jahren die Durchsetzung der EU Digitalregeln und den Datenschutz zu schwächen. Jetzt scheinen sie mit ihrer Einflussnahme Erfolg zu haben. Schwache Regeln stärken die Macht der großen Tech-Konzerne und unsere Abhängigkeiten von Google, Microsoft, Meta & Co. Die EU und die Bundesregierung dürfen sich diesem Lobbydruck nicht beugen und müssen die EU Digitalregeln mit aller Kraft durchsetzen und verteidigen.“
Hintergrund:
Bereits im Frühjahr hatte die EU-Kommission angekündigt, im Rahmen ihrer ausdrücklichen Deregulierungs-Agenda auch technische Anpassungen an der DSGVO sowie der ePrivacy-Richtlinie vorzunehmen.
Die nun durchgesickerten Pläne gehen aber weit über die seinerzeit ins Auge gefassten Änderungen hinaus.
So sehen die geplanten Änderungen eine weitgehende Ausnahme von pseudonymisierten Daten in der Definition der „personenbezogenen Daten“ vor, obwohl sich gerade durch die Zusammenführung verschiedener Daten angesichts umfassender Datensammlungen oft unschwer auf die Identität von Personen schließen lässt. Die Kommission möchte insofern einen rein subjektiven Ansatz verfolgen, was nicht zu Vereinfachungen, sondern zu neuen Rechtsunsicherheiten führen wird.
Besonders sensible Daten, etwa zu religiösen und weltanschaulichen Ansichten, zur ethnischen Herkunft, zu Gesundheitsdaten etc. sollen nur geschützt werden, wenn sie ausdrücklich erhoben werden, aber nicht, wenn sich aus den Daten auf sie schließen lässt. Angesichts der Praxis staatlicher und vor allem kommerzieller Stellen würde das den Schutz dieser Daten ganz weitgehend aufheben und sogar dazu führen, dass Menschen, die aus guten Gründen entsprechende Angaben vermeiden, den Schutz verlieren.
Für KI-Anwendungen ist eine Art Bereichsausnahme geplant, so dass sie diese besonders geschützten Daten weitgehend für das Training von KI-Modellen verwendet werden darf.
Sogenannte „Omnibus-Verfahren“ werden derzeit von der EU in bestimmten Bereichen genutzt, um verschiedene regulatorische Pläne in einem Verfahren zu bündeln. Dabei wird der Eindruck vermittelt, dass es sich weitgehend um technische Anpassungen handeln würde. Im Detail stecken jedoch auch tiefgreifende Einschnitte in etablierte regulatorische Strukturen. Durch die Bündelung sehr verschiedener Maßnahmen werden die üblichen gesetzgeberischen Abläufe unterlaufen und durch den Anschein der „technischen Anpassung und Vereinfachung“ demokratische Beteiligung erschwert.
Für weitere Fragen wenden Sie sich gerne an:
Tom Jennissen
tom.jennissen [at] digitalegesellschaft.de
