Am 17. März haben wir gemeinsam mit EDRi und zahlreichen anderen Organisationen einen offenen Brief an die Europäische Kommission geschrieben, in dem wir fordern, dass die geplante Verordnung gegen Darstellungen von sexuellem Missbrauch von Kindern nicht zu einer umfassenden Überwachung der gesamten Kommunikation führt. Die Pläne zur Chatkontrolle werden derzeit kommissionsintern diskutiert und das Datum zur Veröffentlichung eines Entwurfs – wohl auch aufgrund zivilgesellschaftlicher Interventionen immer wieder verschoben. Derzeit rechnen wir mit einer Veröffentlichung im Mai 2022.
Die Digitale Gesellschaft wird die weiteren Entwicklungen genau beobachten und ruft bereits jetzt dazu auf die geplante Chatkontrolle zu verhindern!
Der Brief im (übersetzten) Wortlaut:
Offener Brief zur geplanten Verordnung zur Bekämpfung des Kindesmissbrauchs vom 17.2.2022
Sehr geehrte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen,
sehr geehrte Vizepräsidentin Margrethe Vestager,
sehr geehrte Vizepräsidentin Vera Jourová,
sehr geehrte Vizepräsidentin Dubravka Šuica,
sehr geehrte Kommissarin Ylva Johansson,
sehr geehrter Kommissar Thierry Breton,
sehr geehrter Kommissar Margaritis Schinas,
Betreff: Schutz digitaler Rechte und Freiheiten bei der Gesetzgebung zur wirksamen Bekämpfung von Kindesmissbrauch
Die Bekämpfung der Online-Verbreitung von Material über sexuellen Missbrauch und sexuelle Ausbeutung von Kindern (CSAM) ist ein wichtiger Teil des umfassenderen globalen Kampfes zum Schutz junger Menschen vor sexuellem Missbrauch und sexueller Ausbeutung. Dieser Kampf erfordert einen umfassenden Ansatz von Regierungen und Unternehmen, um solche ungeheuerlichen Verbrechen zu verhindern, bevor sie passieren. Im Zusammenhang mit der bevorstehenden EU-Gesetzgebung zur wirksamen Bekämpfung von Kindesmissbrauch fordern wir die Kommission nachdrücklich auf, dafür zu sorgen, dass die private Kommunikation der Menschen nicht zum Kollateralschaden der anstehenden Gesetzgebung wird.
Die schockierenden Ereignisse der letzten drei Wochen haben deutlich gemacht, dass Privatsphäre und Sicherheit sich gegenseitig verstärkende Rechte sind. Angegriffene Personen sind auf Technologien angewiesen, die die Privatsphäre wahren, um mit Journalisten zu kommunizieren, den Schutz ihrer Familien zu koordinieren und für ihre Sicherheit und ihre Rechte zu kämpfen. Auch in Friedenszeiten ist die Fähigkeit der Menschen, ohne ungerechtfertigte Eingriffe zu kommunizieren – online wie offline – von entscheidender Bedeutung für ihre Rechte und Freiheiten sowie für die Entwicklung dynamischer und sicherer Gemeinschaften, der Zivilgesellschaft und der Industrie.
Wir sind der festen Überzeugung, dass wir zusammenarbeiten müssen, um langfristige Lösungen für die Verbreitung von CSAM online zu finden, die auf Beweisen beruhen und alle Grundrechte und die Rechtsstaatlichkeit respektieren. Wir glauben, dass der Rückgriff auf schnelle technologische „Lösungen“ mit „Wundermitteln“ nicht nur ineffektiv ist, sondern zu unbeabsichtigten Folgen für die Privatsphäre und Vertraulichkeit der Kommunikation jeder einzelnen Person führen, einschließlich der von Kindern und Missbrauchsbetroffenen. Die Experten sind sich einig, dass es keine Möglichkeit gibt, Strafverfolgungsbehörden außergewöhnlichen Zugriff auf Ende-zu-Ende verschlüsselte Kommunikation zu gewähren, ohne Schwachstellen zu schaffen, die Kriminelle und repressive Regierungen ausnutzen können. Die jüngsten Pegasus-Skandale haben gezeigt, dass das ungehinderte Abhören der Geräte von Menschen enorme Risiken birgt für Journalisten, Politiker, Menschenrechtsverteidiger und für den Erhalt der demokratischen Gesellschaft.
Die 35 unterzeichnenden Organisationen fordern daher die Europäische Kommission auf, dafür zu sorgen, dass die bevorstehende Gesetzgebung zumindest eine Reihe von zehn sich ergänzenden Menschenrechtsprinzipien respektiert, von denen wir die folgenden hervorheben:
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Keine Massenüberwachung: Es darf niemals ein allgemeines, automatisiertes Scannen der privaten Kommunikation aller geben, da dies gemäß dem Wesen des EU-Rechts eine unverhältnismäßige Praxis ist. Die Gesetzgebung zur wirksamen Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs von Kindern darf Dienstleister nicht zu Maßnahmen oder zur Sicherstellung von Ergebnissen veranlassen, die sie tatsächlich zum Durchführen solcher Mittel zwingen würden.
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Eingriffe in die private Kommunikation von Personen müssen auf Grund eines individuellen Verdachts erfolgen: Jeder Eingriff in private Kommunikation muss, um gerechtfertigt zu sein, gemäß einer gesetzlichen Regelung und unter richterlicher Aufsicht auf der Grundlage eines konkreten, begründeten und individuellen Verdachts gerechtfertigt sein.
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Die Maßnahmen müssen so wenig wie möglich in die Privatsphäre eingreifen und sich auf die Erkennung von CSAM beschränken: Um dies zu gewährleisten, sollte der Europäische Datenschutzausschuss (EDPB) Leitlinien zu geeigneten Technologien bereitstellen. Maßnahmen, die die Verschlüsselung brechen oder untergraben (z. B. Client-Side Scanning) oder die Cybersicherheitsrisiken schaffen, schaffen weit mehr Probleme, als sie lösen können.
Zivilgesellschaftliche Organisationen sind an der Gestaltung der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO), der kommenden ePrivacy-Verordnung und der Verhinderung illegaler Regelungen zur Vorratsdatenspeicherung beteiligt. Wir glauben daher, dass eine engere Zusammenarbeit bei dem bevorstehenden Vorschlag dazu beiträgt, eine Gesetzgebung zu gewährleisten, die für ihren Zweck wirksam, notwendig und verhältnismäßig ist. Dies trägt dazu bei, dass Rechtsstreitigkeiten vermieden werden, die Teile der geplanten Verordnung aufheben, die Diensteanbieter dazu zwingen würden, ohne begründeten Verdacht in die private Kommunikation von Menschen einzudringen.
Als Menschenrechtsverteidiger mit Technikkompetenz weisen wir erneut auf die inhärenten Grenzen jeder technologiebasierten „Lösung“ von komplexen kriminellen Problemen wie die Verbreitung von CSAM hin, die einen ganzheitlichen Ansatz erfordern. Um das Ziel zu erreichen, Kinder zu schützen, einschließlich der Verhinderung der Entstehung von CSAM, sind soziale und menschliche Interventionen mindestens so intensiv zu untersuchen wie technologiebasierte.
In einer Gesellschaft, die Demokratie und Rechtsstaatlichkeit respektiert, dürfen Regierungen nicht Maßnahmen um jeden Preis ergreifen. In einer Welt, in der jeder Aspekt unseres Lebens zunehmend digital wird, werden Maßnahmen zunehmend gefährlich, die die Privatsphäre und Vertraulichkeit der Kommunikation beeinträchtigen.
Wir hoffen, dass unsere Wortmeldung Ihnen bei den letzten Schritten der Gesetzgebung helfen. Wir stehen Ihnen hierbei mit Rat und Tat zur Verfügung.
Mit freundlichen Grüßen
Die unterzeichnenden Organisationen:
European Digital Rights (EDRi)
ApTI (Rumänien)
Big Brother Watch (Großbritannien)
Bits of Freedom (Niederlande)
Center for Democracy and Technology (CDT) (International)
Committee to Protect Journalists (CPJ) (International)
Data Rights (Niederlande / Europa)
dataskydd.net (Schweden)
Defend Digital Me (Großbritannien)
Deutscher Anwaltverein (DAV) (Deutschland)
Deutsche Vereinigung für Datenschutz (DVD) (Deutschland)
Digitalcourage (Deutschland)
Digitale Gesellschaft (Deutschland)
Državljan D/Citizen D (Slowenien)
Electronic Frontier Foundation (EFF) (International)
Electronic Frontier Finland (Effi) (Finnland)
Entropia (Deutschland)
European Center for Not-for-Profit Law (ECNL)
European Sex Workers’ Rights Alliance (ESWA)
Foundation for Information Policy Research (FIPR) (Großbritannien / European)
Global Voices (Niederlande / International)
Homo Digitalis (Griechenland)
Internet Society Catalan Chapter (ISOC-CAT) (Europa)
ISOC Brazil – Brazil Chapter of the Internet Society (Brasilien)
IT-Pol Denmark (Dänemark)
LGBT Technology Partnership (International)
Ligue des droits humains (Belgien)
Mnemonic (Deutschland / International)
Open Governance Network for Europe
Open Rights Group (ORG) (Großbritannien)
Privacy and Access Council of Canada
Privacy International (PI)
Ranking Digital Rights (International)
Tech for Good Asia
Vrijschrift.org (Niederlande)
Das englischsprachige Originaldokument kann im Netz abgerufen werden unter
Wir bedanken uns bei Thilo Weichert und der Deutschen Vereinigung für Datenschutz für die Übersetzung