Am 27. März 2020 haben European Digital Rights (EDRi) und 12 seiner Mitgliedsorganisationen einen offenen Brief an die Vertreter der Mitgliedstaaten im Rat der EU geschickt. In diesem Brief äußern wir unsere tiefe Besorgnis über die vorgeschlagene Gesetzgebung zur Regulierung terroristischer Online-Inhalte und über das, was wir als ernsthafte potenzielle Bedrohung für die Grundrechte der Privatsphäre, der Meinungsfreiheit usw. ansehen.

Links zum Brief im Original auf der Website von EDRi: (html) (pdf)

Übersetzung der Digitalen Gesellschaft e.V.:

Brüssel, 27.03.2020

Sehr geehrte Vertreter und Vertreterinnen der Mitgliedstaaten im Rat der EU,

Wir hoffen, dass es Ihnen in dieser schwierigen Zeit gut geht.

Wir möchten Ihnen erneut unsere ernsthaften Bedenken gegen die vorgeschlagene Verordnung zur Verhinderung der Verbreitung terroristischer Online-Inhalte (KOM/2018/640 endg.) erläutern. Viele ähnliche kritische Argumente wurden in Briefen von Grundrechtsbeauftragen der Vereinten Nationen, Gruppen der Zivilgesellschaft und Menschenrechtsverfechtern gegen die Verordnung vorgebracht.[1]

Wir sind der festen Überzeugung, dass die Grundlage jedes gemeinsamen Standpunkts zu diesem wichtigen Dossier die Grundrechte und -freiheiten, die Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten und das bestehende Unionsrecht in diesem Bereich sind. Damit dies beachtet wird, fordern wir Sie dringend auf, sicherzustellen, dass die Rechtsstaatlichkeit in grenzüberschreitenden Fällen respektiert wird und dass die zuständigen Behörden, die mit der Anordnung der Entfernung illegaler terroristischer Inhalte beauftragt sind, unabhängig sind. Wir fordern Sie zudem auf, von verbindlichen (Wieder-)Uploadfiltern Abstand zu nehmen und zu garantieren, dass die Ausnahmen für bestimmte geschützte Ausdrucksformen wie Bildungs-, journalistisches und Forschungsmaterial beibehalten werden.

Zu den Forderungen im Einzelnen:

Erstens bitten wir Sie, das Territorialitätsprinzip zu respektieren und den Zugang zur Justiz in Fällen von grenzüberschreitenden Übernahmen zu gewährleisten, indem Sie sicherstellen, dass nur der Mitgliedstaat, in dem der betroffene Dienst seine rechtliche Niederlassung hat, Entfernungsanordnungen erlassen kann. Die Verordnung sollte es auch ermöglichen, Entfernungsanordnungen im Mitgliedstaat der Niederlassung des Anbieters anzufechten, um einen sinnvollen Zugang zu einem wirksamen Rechtsbehelf zu gewährleisten. Deshalb fordern wir Sie auf, den Vorschlag des Europäischen Parlaments für einen neuen Artikel 9a zu prüfen, um das Recht der Inhaltsanbieter auf einen wirksamen Rechtsbehelf zu gewährleisten. Wie die jüngste Rechtsprechung des EuGH erneut festgestellt hat, dürfen Gründe der „Effizienz“- oder „nationalen Sicherheit“ nicht zu einer Verkürzung der rechtsstaatlichen Mechanismen und Schutzmaßnahmen führen.

Zweitens verlangt das Rechtsstaatsprinzip, dass die Rechtmäßigkeit des zu entfernenden Inhalts durch ein Gericht oder eine unabhängige Verwaltungsbehörde festgestellt wird. Dieser wichtige Grundsatz sollte sich in der Definition der „zuständigen Behörden“ widerspiegeln. Wir weisen darauf hin, dass der EuGH zum Beispiel in der Rechtssache Digital Rights Ireland die Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung für ungültig befunden hat, unter anderem weil der Zugang zu personenbezogenen Daten durch die Strafverfolgungsbehörden nicht von einer vorherigen Überprüfung durch ein Gericht oder eine unabhängige Verwaltungsbehörde abhängig gemacht wurde.[2] Unserer Ansicht nach bringt die Entfernung mutmaßlich terroristischer Inhalte einen sehr erheblichen Eingriff in die Meinungsfreiheit mit sich und erfordert daher die Anwendung der gleichen Schutzmaßnahmen.

Drittens sollte die Verordnung den betroffenen Diensten nicht die Verwendung von Upload- oder Wieder-Uploadfiltern (Technologien zur automatischen Erkennung von Inhalten) vorschreiben. Wie die Coronavirus-Krise überdeutlich macht, sind Filter bei weitem nicht präzise. Erst in den letzten Tagen sind Twitter, Facebook und YouTube zu einer vollständigen Automatisierung der Entfernung von Inhalten übergegangen, was dazu geführt hat, dass zahlreiche legitime Artikel über Coronaviren entfernt wurden.[3] Dasselbe wird passieren, wenn Filter auf angeblich terroristische Inhalte angewendet werden. Es gibt auch immer mehr Daten, die darauf hindeuten, dass die Algorithmen eine diskriminierende Wirkung haben, was besonders für die vom Terrorismus betroffenen Gruppen besorgniserregend ist, deren Gegenrede sich als entscheidend gegen Radikalisierung und terroristische Propaganda erwiesen hat. Darüber hinaus sollte eine Bestimmung, die den Plattformen spezifische Maßnahmen auferlegt, ein Modell begünstigen, das den Dienstanbietern einen Handlungsspielraum bietet, um die Verbreitung illegaler terroristischer Inhalte zu verhindern, wobei ihre Kapazitäten und Ressourcen, ihre Größe und ihre Art (ob gemeinnützig, gewinnorientiert oder gemeinschaftlich verwaltet) berücksichtigt werden.

Schließlich ist es von entscheidender Bedeutung, dass bestimmte geschützte Ausdrucksformen wie pädagogisches, künstlerisches, journalistisches und Forschungsmaterial von dem Vorschlag ausgenommen werden und dass er durchführbare Maßnahmen enthält, um sicherzustellen, wie dies erfolgreich umgesetzt werden kann. Die Feststellung, ob Inhalte auf eine Anstiftung zum Terrorismus oder sogar auf eine Verherrlichung des Terrorismus hinauslaufen, ist sehr kontextabhängig. Forschungsmaterial sollte so definiert werden, dass Inhalte geschützt sind, die als Beweis für Menschenrechtsverletzungen dienen. Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) [4] verlangt insbesondere eine besondere Vorsicht gegenüber solchen geschützten Rede- und Ausdrucksformen. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass sich diese Prinzipien in der Verordnung über terroristische Inhalte widerspiegeln, auch durch die Annahme spezifischer Bestimmungen zum Schutz der Meinungsfreiheit, wie oben beschrieben.

Wir stehen Ihnen auch in Zukunft für jede Unterstützung zur Verfügung, die Sie von uns benötigen.

Mit freundlichen Grüßen

Access Now – https://www.accessnow.org/
Bits of Freedom – https://www.bitsoffreedom.nl/
Centrum Cyfrowe – https://centrumcyfrowe.pl
CDT – https://cdt.org
Committee to Protect Journalists (CPJ) – https://cpj.org/
Daphne Keller – Director Program on Platform Regulation Stanford University
Digitale Gesellschaft – https://digitalegesellschaft.de/
Digitalcourage – https://digitalcourage.de/
D3 – Defensa dos Dereitos Digitais –
https://www.direitosdigitais.pt/
Državljan D – https://www.drzavljand.si/
EDRi – https://edri.org/
Electronic Frontier Foundation (EFF) – https://www.eff.org/
Epicenter.Works – https://epicenter.works
Free Knowledge Advocacy Group EU- https://wikimediafoundation.org/
Hermes Center – https://www.hermescenter.org/
Homo Digitalis – https://www.homodigitalis.gr/en/
IT-Political Association of Denmark – https://itpol.dk/
Panoptykon Foundation – https://en.panoptykon.org
Vrijschrifthttps://www.vrijschrift.org
Wikimedia Spain – https://wikimedia.es

[1] Letter to Member States calls for safeguards in Terrorist Content Regulation, 17 December 2019, verfügbar unter: https://edri.org/letter-to-member-states-calls-for-safeguards-in-terrorist-content-regulation/; Open letter: Regulation on terrorist content online endangers freedom of expression, 18 March 2019, verfügbar unter: https://edri.org/open-letter-regulation-on-terrorist-content-online-endangers-freedom-of-expression; David Kaye, Joseph Cannataci and Fionnuala Ní Aoláin, Mandates of the Special Rapporteur on the promotion and protection of the right to freedom of opinion and expression; the Special Rapporteur on the right to privacy and the Special Rapporteur on the promotion and protection of human rights and fundamental freedoms while countering terrorism, 2018, verfügbar unter: https://spcommreports.ohchr.org/TMResultsBase/DownLoadPublicCommunicationFile?gId=24234; Access Now et al., Letter to Members of European Parliament, 2019, verfügbar unter: https://cdt.org/files/2019/02/Civil-Society-Letter-to-European-Parliament-on-Terrorism-Database.pdf; Article 19 et al., letter on European Commission regulation on online terrorist content, 2019, verfügbar unter: https://www.article19.org/resources/joint-letter-on-european-commission-regulation-on-online-terrorist-content/; WITNESS et al., Letter to the Committee on Civil Liberties, Justice and Home Affairs, 2019, verfügbar unter: https://drive.google.com/file/d/1WTgl5hjJ_cAE1U0OjqaQ9AucU6HNlhoi/view.

 

[2] Siehe Digital Rights Ireland v. Minister for Communications, Marine and Natural Resources, Joined Cases C‑293/12 and C‑594/12, 08 April 2014 at para. 62.

 

[3] https://arstechnica.com/information-technology/2020/03/reputable-sites-swept-up-in-fbs-latest-coronavirus-minded-spam-cleanse/; https://www.theguardian.com/technology/2020/mar/18/facebook-says-spam-filter-mayhem-not-related-to-coronavirus.

 

[4] In Fällen der Verbreitung von „Aufstachelung zur Gewalt“ oder Terrorismus durch die Presse geht der EGMR davon aus, dass es „Aufgabe [der Presse] ist, Informationen und Ideen zu politischen Themen ebenso wie zu solchen in anderen Bereichen von öffentlichem Interesse zu vermitteln. Die Presse hat nicht nur die Aufgabe, solche Informationen und Ideen zu vermitteln, sondern die Öffentlichkeit hat auch ein Recht darauf, diese Informationen und Ideen zu erhalten“. Siehe Lingens gegen Österreich, App. Nr. 9815/82,8. Juli 1986, Rdnr. 41. Der EGMR vertrat auch wiederholt die Auffassung, dass die Öffentlichkeit das Recht habe, über verschiedene Perspektiven, z.B. über die Situation in der Südosttürkei, informiert zu werden, auch wenn diese den Behörden nicht gefallen mögen. Siehe auch Özgür Gündemv. Türkei, Nr. 23144/93, 16. März 2000, Abs.60 und 63 und das Council of Europe handbook on protecting the right to freedom of expression under the European Convention on Human Rights, das die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu den positiven Verpflichtungen der Staaten im Hinblick auf den Schutz von Journalisten zusammenfasst (S. 90-93), verfügbar unter: https://rm.coe.int/handbook-freedom-of-expression-eng/1680732814.