Der Vertrag von Marrakesch ist eine völkerrechtliche Übereinkunft, welche den weltweiten Mangel an Büchern für blinde, seh- und lesebehinderte Menschen lindern soll. Seine Ziele sind derart offensichtlich unterstützenswert und die dort vorgesehenen Maßnahmen so einfach umsetzbar, dass niemand ernsthaft mit Widerstand rechnen konnte. Gleichwohl scheinen der Vertrag auf EU-Ebene derzeit nicht von großem Interesse zu sein, denn der Ministerrat und die Kommission fahren beim seinem eigentlichen Abschluss eine Verzögerungstaktik. Damit muss Schluss sein! Im EU-Parlament wird das Thema heute im Plenum diskutiert.
Worum geht es?
Derzeit werden in Deutschland nur circa 5% aller Bücher in für blinde, seh- und lesebehinderte Menschen wahrnehmbaren Formaten angeboten, vor allem als Audio-Bücher und als Bücher in Braille-Schrift. In Entwicklungsländern ist dieser Anteil noch deutlich niedriger, was zu einer Ausgrenzung von blinden und sehbehinderten Menschen vor allem in den Bereichen von Kultur und Wissenschaft führt.
Der Vertrag will dieses Problem lösen, indem die unterzeichnenden Staaten eine Ausnahme in ihrem jeweiligen Urheberrecht einführen, die es blinden und sehbehinderten Menschen erlaubt, entsprechende Sonderformate ohne Einwilligung des Rechteinhabers zu erstellen oder erstellen zu lassen. Weiterhin sollen „befugte Stellen“ geschaffen werden, zum Beispiel Blindenbibliotheken, die Werke in solchen Sonderformaten für berechtigte Personen bereitstellen. Dies soll vor allem auch über das Internet und über Ländergrenzen hinweg möglich sein, und zwar zwischen diesen befugten Stellen wie auch direkt zwischen den Stellen und den berechtigten Personen.
Für die Umsetzung dieser hehren Ziele ist also nicht mehr nötig als eine relativ geringfügige Änderung des Urheberrechts. Aus diesem Grund fand der Vertrag bisher 81 Unterzeichner, unter ihnen die Europäische Union und viele ihrer Mitgliedstaaten.
Wo hapert es?
An dieser Stelle kommt man schon auf den Kern des Problems – eines Problems, das es eigentlich gar nicht geben dürfte. Derzeit blockieren sowohl der Ministerrat als auch die EU-Kommission durch Verfahrenstricks und das Vorschieben von Scheinproblemen den eigentlichen Abschluss des Vertrages. Damit eine völkerrechtliche Übereinkunft wie der Vertrag von Marrakesch in Kraft treten kann, bedarf es neben der Unterzeichnung auch der Ratifikation durch den EU-Ministerrat. Da der Vertrag eine Pflicht zur Gesetzgebung enthält, muss der Rat außerdem die Zustimmung des Europäischen Parlaments einholen. Erst wenn diese Schritte erfolgt sind, wird der Vertrag wirksam und kann in der Folge umgesetzt werden. Im Falle des Vertrags von Marrakesch könnte die Umsetzung am einfachsten über eine Änderung der InfoSoc-Richtlinie geschehen. Eine solche Änderung wäre auch relativ leicht vorzunehmen, da alle relevanten Organe der EU dem Vertrag zuvor bereits zugestimmt hätten. Bei der folgenden Umsetzung wäre demnach kein Widerstand zu erwarten.
Soweit die Theorie. Anstatt dieses Verfahren jedoch zügig voranzutreiben, forderte eine Untergruppe des Europäischen Rats, die sich mit Fragen des geistigen Eigentums befasst, die EU-Kommission auf, vor der Ratifikation zunächst die Möglichkeiten für eine europarechtskonforme Umsetzung des Vertrages zu überprüfen. Dies führte naturgemäß zu einer erheblichen Verzögerung beim Vertragsabschluss. Zudem war dieser zusätzliche Schritt eigentlich unnötig, da die Kommission dem Rat bereits vor Aufnahme der Verhandlungen den Beitritt zum Vertrag von Marrakesch empfohlen hatte. Erwartungsgemäß gelangte die Kommission bei ihrer Prüfung zu dem Schluss, dass zahlreiche Möglichkeiten bestehen, um den Vertrag EU-rechtlich umzusetzen (.pdf). So könnten die vertraglich vorgesehenen Ausnahmen als zwingende Vorgabe für die Mitgliedsstaaten in die InfoSoc-Richtlinie eingefügt werden. Um eine möglichst weitreichende Harmonisierung der Umsetzung zu erreichen, wäre es auch denkbar, entweder die wichtigsten oder sämtliche Klauseln des Marrakesch-Vertrages in ein EU-Gesetz zu gießen.
Die Optionen für ein weiteres Vorgehen liegen folglich auf dem Tisch. Gleichwohl zieht die Kommission das Verfahren ihrerseits nun weiter in die Länge. So kündigte sie an, ein Non-Paper zum Vertrag von Marrakesch zu veröffentlichen. Ein solches Papier dient normalerweise dazu, die Stimmungslage unter den Mitgliedstaaten bei einem bestimmten Thema zu testen. Diese können nun Stellung nehmen, sind dazu aber nicht verpflichtet. Unklar bleibt, warum die Kommission diesen Weg wählt: Der Vertrag ist ausgehandelt und seine Inhalte werden von allen Seiten unterstützt. Die Meinungen sind ausgetauscht und zumindest öffentlich gibt es keine Gegner des Vertrags. Es fehlt an der Umsetzung, und nicht an einem Dialog.
Dieses Vorgehen ist umso unverständlicher, als dass es obendrein viel zu spät kommt. Es zeichnete sich bereits kurz nach der Unterzeichnung am 28. Juni 2013 ab, dass auf Seite der Mitgliedstaaten wenig Interesse an einer schnellen Umsetzung besteht.
Die einzige Erklärung scheint zu sein, dass die Kommission und der Rat hier bei einem dringenden Thema auf Zeit spielen und versuchen, die Umsetzung mit fadenscheinigen Argumenten zu verzögern.
Wie kann es weiter gehen?
Dabei wäre es ohne weiteres möglich, den Vertragsabschluss und die anschließende Umsetzung zu beschleunigen. So könnte das Verfahren innerhalb des Rates eine Stufe höher wandern, von der Untergruppe für geistiges Eigentum in den Ausschuss der Ständigen Vertreter (COREPER). Damit wäre es deutlich näher an die Ministerebene herangerückt, was zugleich den politischen und öffentlichen Druck, den Vertrag nicht weiter unnötig zu blockieren, erhöhen würde. Ein solches Szenario wäre zwar wünschenswert, erscheint aktuell aber mangels politischen Willens als unwahrscheinlich.
Es sollte nicht vergessen werden, dass derzeit auch eine weitreichende Reform des EU-Urheberrechts auf dem Weg ist. Entsprechend steht der Vorschlag im Raum, die Umsetzung des Vertrags in dieses Vorhaben zu integrieren, und auf kleinteilige Änderungen des Urheberrechts zum gegenwärtigen Zeitpunkt zu verzichten. Die Reform wird voraussichtlich jedoch noch einige Zeit in Anspruch nehmen – eine Zeit, in der blinde, seh- und lesebehinderte Menschen weiter darauf warten müssen, dass ausreichend Werke in Sonderformaten erstellt und verfügbar gemacht werden dürfen.
Auf Anfragen von Parlamentariern zum Status des Projekts reagiert der Rat derzeit ausweichend. Die Initiative sei weiterhin in der Beratung, alle Beteiligten seien aber von ihren Zielen überzeugt. Die Beschwichtigungen können jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Ministerrat und Kommission sich aktiv darum bemühen, ein wichtiges Projekt zu verschleppen. Es ist höchste Zeit, dass sich diese beiden Organe auf einen zielführenden Weg einigen, und ihn in der Folge konsequent und zügig beschreiten. Mehr als überfällig ist zudem die Offenlegung der tatsächlichen Interessen hinter der Verzögerungstaktik, da sich die bislang vorgebrachten Beweggründe für die Blockierung des Vertrages als wenig überzeugend erweisen.
Die Rat muss aufhören, unnötige und zeitraubende Verfahren von der Kommission einzufordern und den Vertrag stattdessen endlich dem EU-Parlament vorlegen. Gleichzeitig sollte sich auch die Kommission von ihrer verfehlten Verzögerungstaktik verabschieden und einen ehrlichen, beherzten Einsatz für den Abschluss des Vertrages an den Tag legen. Es ist ebenso beschämend wie unerträglich, dass bis heute versucht wird, die Verankerung der Rechte von blinden, seh- und lesebehinderten Menschen durch vorgeschobene Scheinprobleme zu untergraben.
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