Heute Nacht gab es eine Premiere für uns: Zum ersten Mal wurden wir von einem Politiker auf Twitter „verleumderische Arschlöcher“ genannt:

„Digitale Gesellschaft“=verleumderische Arschlöcher. Nennen mich „Wackelkandidat“ bzgl. #PNR, haben mich nie gefragt + ignorieren Korrektur.

Da wacht man Morgens auf und findet das dann mit vielen Retweets auf Twitter und man fragt sich, worum es eigentlich geht. Seit gut zwei Wochen haben wir die Aktion fluggastdaten.digitalegesellschaft.de online. Bereits vorher haben wir dasselbe Tool für die ACTA-Debatte genutzt und werden es natürlich weiter laufen lassen.

Die Idee hinter dem Tool ist das Prinzip Bürger2Politiker. Bei bestimmten, uns wichtigen Abstimmungen, die klar auf „Ja“ oder „Nein“ zugehen, möchten wir einen Überblick über das Abstimmungsverhalten bieten. Dabei möchten wir gleichzeitig Bürger ermuntern, sich persönlich an ihre Abgeordneten zu wenden, anstatt immer nur über die EU zu schimpfen. So war es bei ACTA und jetzt bei der Fluggastdaten-Debatte.

Nun stehen wir beim Start einer Aktion natürlich vor der Herausforderung, dass bei vielen das Abstimmungsverhalten nicht feststeht, weil ja kein Fraktionszwang vorherrscht. Auch möchten wir von jedem Abgeordneten ein Zitat anführen, das das Abstimmungsverhalten belegt. Natürlich wissen wir, dass die Wahrscheinlichkeit ziemlich hoch ist, dass bei diesem Thema z.B. Liberale, Grüne und Linke weitgehend dagegen stimmen. Aber mangels Fraktionszwang weiß man es trotzdem nicht so genau.

Die Idee hinter dem Tool ist also, dass Bürger Kontaktinformationen von allen 99 Europaabgeordneten erhalten, um direkt Politiker anzusprechen und uns die Antworten weiterzuleiten. Natürlich könnten wir auch selbst alle Politiker anfragen, die Antworten in die Liste eintragen und die Bürger außen vor lassen, aber es geht hier tatsächlich um das Prinzip Bürger2Politiker. Damit sollen Bürger zeigen, dass ihnen ein Thema wie das Passagierdatenabkommen oder ACTA wichtig ist. Und das ist sicher auch im Sinne eines demokratischen Prozesses.

Nun haben wir uns bei der Konzeption des Tools drei Kategorien in den Farben einer Ampel überlegt: „Ja“, „Nein“ und „Wackelkandidaten“. Befürworter werden bei „Ja“ in roter Farbe einsortiert, Gegner unter „Nein“ in grün und dann gibt es noch die Unklaren und/oder tatsächliche Wackelkandidaten in gelb. Bei einzelnen Fraktionen ist es recht beliebt, sich mit einem längeren Statement alle Wege offen zu halten. Aus Bürgersicht klingt das dann gut, aber wenn man Politiker-Sprech versteht, weiß man, dass ein Politiker sich damit nicht eindeutig positioniert und einer Antwort ausweicht. Wenn wir bei einer Surftour über 99 Politiker-Webseiten keine eindeutigen Statements fanden, haben wir alle erstmal als „Wackelkandidaten“ einsortiert. Wir dachten, dass dies Bürger ermuntert, Politiker schneller anzuschreiben um eine Antwort zu erhalten. Einige Büros haben auch sofort reagiert und uns Antworten direkt geschickt.

Reinhard Bütikofer hatte sich vor rund einer Woche bei einem Bürger beschwert, der ihn auf die Wackelkandidatenrolle hinwies. Wir nahmen das zum Anlass, um ihn direkt unter „Nein“ als Gegner des Fluggastdaten-Abkommens einzusortieren. Damit war der klassische beabsichtigte Weg genommen: Ein Politiker hatte auf Anfrage eines Bürgers seine Meinung zum Fluggastdatenabkommen geäußert, es wurde von Nutzern zurückgemeldet und wir haben den Status zeitnah geändert. Gestern Abend zu später Stunde dann der Eingangs erwähnte Tweet, der nicht berücksichtigte, dass Reinhard Bütikofer bereits seit einer Woche einen anderen Status hat.

Wie reagiert man darauf?

Wir haben uns heute Morgen erstmal Gedanken gemacht, wie wir darauf reagieren sollen. Wir waren über die Wortwahl etwas überrascht und vor allem ging die Anschuldigung von der falschen Tatsachenbehauptung aus, Reinhard Bütikofer wäre immer noch als Wackelkandidat einsortiert. Wir haben ihm erstmal eine Mail geschickt, das Prinzip des Tools erklärt und ein Gesprächsangebot gemacht, das er auch für die Zukunft angenommen hat.

Um das Missverständnis auszuräumen, was genau ein Wackelkandidat ist, haben wir erstmal kurzfristig die Kategorie in „Unbekannt / Wackelkandidat“ umbenannt. Wir diskutieren, ob wir eine vierte Kategorie einbauen, die dann „Unbekanntes Abstimmungsverhalten“ heißen wird. Dafür spricht eine deutliche Abgrenzung zu „richtigen Wackelkandidaten“. Dagegen spricht auf Aufhebung des Ampel-Prinzips mit den Farben Rot, Gelb, Grün. Man könnte auch „Unbekanntes Abstimmungsverhalten oder Wackelkandidaten“ als Bezeichnung für gelb wählen.

Wir sind stolz darauf, dass viele Bürger das Tool bereits genutzt haben und finden es recht gelungen, um eine Brücke nach Europa zu bauen.

Über Verbesserungsvorschläge und konstruktive Kritik sind wir immer dankbar. Das geht aber auch ohne Beleidigungen, die sich jeder Politiker von uns ebenso verbitten würde wie wir das uns von ihm verbitten wollen.

Für den falschen Vorwurf hat sich Reinhard Bütikofer mittlerweile auf Twitter entschuldigt. Für die „verleumderische Arschlöcher“ leider nicht. mittlerweile auch.

19 Meinungen zu “Verleumderische Arschlöcher

  1. Andreas sagt:

    Ich fände es gut, wenn es drei Spalten gäbe, zB links JA, mitte UNENTSCHLOSSEN (oder UNBEKANNT) und rechts NEIN – anstatt alle in einer langen Wurst. Weiss nicht, ob das hier schon vorgeschlagen oder diskutiert wurde.

  2. Heiko sagt:

    Wackelkandidat ist wohl wirklich nicht so passend.

    Aber: Letztendlich muss sich jeder Politiker auf Ja/ Nein/ Enthaltung bei einer Abstimmung über ein Gesetz festlegen. Das Argument, dass man noch in Bewusstseinsfindung ist, zieht am Anfang einer Diskussion schon, aber irgendwann ist auch mal Schluss damit. Abstimmungen in Parlamenten werden ja auch nicht auf den Sankt Nimmerleinstag verschoben, weil sich 10 Abgeordnete noch nicht in der Lage sehen, eine klare Meinung zu haben.

    Deshalb finde ich die Bezeichnung unbekannt für Gelb am besten, da es für den Bürger egal ist, warum der Politiker ( noch) keine Meinung hat und es andererseits auch keine (Ab-) Wertung für den betroffenen Politiker darstellt.

    Die Rückmeldung von seiner Erbsprinzesslichkeit Herrn Bütikofer ist natürlich eine Perle des politischen Diskurses und meines Erachtens Wert für die virtuelle Franz-Josef-Strauss Gedächtnisplakette. Vielleicht sollten ihm seine PR Fachleute mal den Twitterzugang sperren bzw. erst verzögert freigeben, nachdem ein Kommunikator oder Rechtsanwalt drübergeschaut hat. Das Internet ist schließlich kein rechtsfreier Raum…

  3. Bachsau sagt:

    Wackelkandidat heißt normalerweise, dass jemand sich seiner Meinung nicht sicher ist. Trotz der unangebrachten Wortwahl, hat er aber Recht. Ihr könnt nicht einfach jemanden Wackelkandidat nennen, ohne ihn nach seiner Meinung befragt zu haben. Richtig wäre es, diese Leute entweder gar nicht aufzulisten, bevor man sie nicht gefragt hat, oder mit „Unbekannt“ zu kennzeichnen. Wer nicht gefragt wurde, kann auch nicht Stellung beziehen. Wackelkandidat heißt für mich, der Betroffene wurde gefragt, und hat wiedersprüchliche Aussagen gemacht, oder eindeutig mitgeilt, sich seines Standpunktes nicht sicher zu sein (z.B. weil er noch nicht genug Informationen zum Thema hat).

  4. Karsten sagt:

    „Dagegen spricht auf Aufhebung des Ampel-Prinzips mit den Farben Rot, Gelb, Grün.“

    Ach was. Macht einfach das „Ampel-Licht“ heller, je mehr Rückmeldungen es gab. Dann habt ihr sogar visualisiert, ob es nun 1 oder 100 Rückmeldungen gab, was ja durchaus sehr interessant ist. Wenige Helligkeitsstufen reichen, grob logarithmische Skalierung.

  5. simple 3 sagt:

    Sehr souverän und vorbildlich wie ihr mit „diesem Fall“ umgeht! Das wünschte ich mir von dem einen oder der andere Volksvertreterin auch…

  6. Manuelito sagt:

    Das Wort „Wackelkandidat“ trifft es imho nicht. Wenn ich noch nicht so weit bin, mir eine Meinung gebildet zu haben, bin ich noch lange kein Wackelkandidat. Diese Zuordnung würde ich mir als noch Unentschlossener empört verbitten. Ein Wackelkandidat ist imho einer, der leicht beeinflußbar ist und heute mit ja und morgen mit nein stimmt. Wenn ich dagegen noch unsicher bin und mich erst endgültig informieren bzw. entscheiden muß, bin ich niemand, der wackelt, sondern eben ein Unentschiedener. Insofern ist das Wort „Wackelkandidat“ ganz schlecht und ich wäre als „grauer“ oder „gelber“ auch sehr empört darüber.

  7. Wolf sagt:

    der Vorschlag von @Till ist ganz nett: Grau würde ich einführen unter der Rubrik „noch kein Thema“ , wenn die entsprechenden Politiker sich selbst noch nicht dazu geäussert haben sollten. Bei eindeutigem Politsprech zum Thema wäre allerdings der Wackelkandidat angemessen. Das Ziel ist ja, die Wackelkandidaten dazu zu bewegen, sich eindeutig zum Thema äussern. Das scheint den „verleumderischen A**) ja gelungen zu sein.
    Danke! :)

  8. Florian B. sagt:

    „…Aus Bürgersicht klingt das dann gut, aber wenn man Politiker-Sprech versteht,…“

    Freudsche Fehlleistung, lieber Markus oder ist die Entgegensetzung BürgerIn Politik-Sprech-Versteherin sozialwissenschaftlich plausibel?

    Bütis Tweet ist allerdings auch meinem Empfinden nach besorgnisserregend, weil in so vielerlei Hinsicht „daneben“.

    • Markus Beckedahl sagt:

      @Florian B.: Freudsche Fehlleistung? Keineswegs. Bei unserer ACTA-Aktion hatten wir mehrfach den Fall, dass mein in Politikersprech unerfahrener Praktikant Politiker-Antworten gelesen hat und daraus was anderes heraus las als ich, weil es nett formuliert war, aber letztendlich vollkommen unverbindlich.

  9. André sagt:

    Nun lasst doch mal das Bashing sein. Der Ansatz der Digitalen Gesellschaft hat ja die besten Absichten, nämlich Transparenz in das Parlament hinein zu bringen.

    Ich finde trotzdem, dass Ja/Nein irgendwie einem Parlament nicht gut tut. Wir sehen es doch im Wahlkampf in den USA wozu das führt, wenn das gesinnungstreue Abstimmungsverhalten im Sinne von extremistischen Positionen überprüft wird.

  10. Lucas sagt:

    Ich stehe voll hinter euch, aber ihr müsst eingestehen, das „Wackelkandidat“ keine neutrale Kategorie zwischen „Ja“ und „Nein“ ist, impliziert sie doch, dass der Kandidat kurz vor dem Absturz steht und das ist, aus Anti-ACTA Sicht, nun mal ein „Ja“.

    Die Aktion ist gut, auch das Bürger2Politiker Prinzip und alles, aber ich glaube da habt ihr aus Versehen Netzpolitiksprech angewendet, wo es nicht angebracht war.

    Um euch nicht angreifbar zu machen müsstet ihr „unbekannt“ oder „nicht klar definiert“ verwenden, auch wenn es nicht so einen großen Eindruck macht.

    Aber hey, das wird schon … bitte weitemachen :)

  11. Jan Dark sagt:

    Die Unterstellung. jemand sei ein Wackelkandidat, wenn man überhaupt nichts über seine Absichten weiß, ist eine dreiste, unprofessionelle Verleumdung. Das Problem hat nun nicht Bütikofer mit seiner emotionalen Reaktion, sonder Ihr mit Eurer abhanden gekommenen Glaubwürdigkeit.

    Auch der Hinweis auf den fehlenden Fraktionszwang ist völlig unprofessionell. Ihr stellt Menschen an den Pranger mit erfundenen Behauptungen und wollt die noch nicht malö als Individuen respektieren, sondern hättet gerne, dass die einen Stempel auf der Stirn tragen: Wir 10 sind grün, wir haben deshalb Meinung X, weil sonst das für die digitalegesellschaft zu komplex ist, irgendwas zu ermitteln, bevor es behauptet wird.

    Auch die zögerlich Reaktion auf erfundenes nicht verzichten zu wollen, zeigt, dass ihr nicht professionell werden wollt. Schade. Verleumdung ist ganz miese Politik.

  12. joerg sagt:

    Ich finde, die Reaktionen von Sanníe und Steve machen das Problem deutlich. Was ist gut daran, einem Politiker etwas zu unterstellen, was nicht stimmt? Und was ist schlecht daran, wenn sich ein Politiker Zeit dafür nimmt, seine Haltung zu entwickeln?
    Ihr unterstützt mit einer ungenauen Kategorisierung genau die Art von Politikern, die gerade auch hier im Netz vehement abgelehnt werden: große Klappe, schnelle Meinung.
    Insofern solltet Ihr das gut differenzieren: Ja/ Nein, Überlegt noch, keine Äußerung
    Finde ich jedenfalls besser als mit solchen polemisch-inquisitorischen Begriffen wie „Wackelkandidat“.

  13. Phil sagt:

    Die Erweiterung der Farbpalette macht imho Sinn, ich würde da auch wie in Tills Vorschlag auf die Farbe Grau für „Unbekannt“ zurückgreifen. Wenn ihr’s noch einfacher machen wollt, dann nehmt doch anstelle vom unsauberen „Unbekannt / Wackelkandidat“ den Kategoriennamen „Unsicher“. Dann fällt zwar die Differenzierung weg, aber ihr könnt die Rot-Gelb-Grün-Palette beibehalten, ohne dass sich sofort jemand auf den Schlips getreten fühlt.

  14. Steve Anorizz sagt:

    Ich lese diesen Blog zum ersten Mal und habe ihn schon abonniert – großartige Sache was ihr da macht. Und vor allem euer Verhalten gegenüber dem Politiker finde ich sehr gut, auch wenn ich ihn nicht kenne – Diskussion ist immer gut. Coole Aktion von euch, weiter so!

  15. Sanníe sagt:

    Nein, ich glaub, der hat da mehr als ein Defizit, so wie er auf twitter immer noch abgeht. Reagiert auch nicht mehr auf Ansprache, immer auf Sendung, Sendung, Sendung.
    (Da rettet die Haltung zum Fluggastaufkommen auch nicht mehr,)

  16. Till sagt:

    Vor dem selben Problem steht jede SoziologIn, die einen Fragebogen konstruieren will. Und dann eben schnell feststellt, dass bei „SInd Sie für die Fluggastdatenspeicherung? Ja / zum Teil / nein“ die Antwort „zum Teil“ eben nicht identisch mit „keine Angabe“, „habe dazu keine Meinung“, „will mich dazu nicht äußern“ ist. Insofern fände ich es rein methodisch extrem klug, zwischen Mittelmäßigkeit und fehlendem Wissen zu unterscheiden.

    Ampelfarbenvorschlag: Macht’s grau.

    P.S.: Finde das Krisenhandling via diesen Beitrag gut!

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