In diesem Monat haben wir Viviane Reding, Vize-Präsidentin der Europäischen Kommission und zuständig für Justiz, Grundrechte und Bürgerschaft sowie Michel Barnier, Kommissar für Binnenmarkt und Dienstleistungen, einen Brief geschrieben. Das Anliegen ist die EU-Richtlinie zur Durchsetzung des geistigen Eigentums, die bei uns zu dem Unwesen geführt hat, was man „Abmahnindustrie“ nennt. Wir bitten die EU-Kommission zu überprüfen, ob 4,5 Millionen Abmahnungen wegen vermeintlicher Urheberrechtsverletzungen noch verhältnismäßig und die Auswüchse mit der EU-Richtlinie vereinbar sind. Aus unserer Sicht sprechen einige Punkte dagegen und wir bitten die EU-Kommission zu prüfen, ob in diesem Fall ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland eingeleitet werden muss.
Hier ist unser Brief im Wortlaut (PDF).
Sehr geehrte Frau Vizepräsidentin,
sehr geehrter Herr Kommissar,
wir wenden uns in diesem Schreiben an Sie mit einem Anliegen, das die derzeitige Situation seit der Umsetzung der Richtlinie 2004/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums in Deutschland betrifft.
Seit September 2008 haben Rechteinhaber die Möglichkeit, bei Verstößen gegen das Urheberrecht ihre Ansprüche direkt gegen Internetnutzer, die nicht rechtskräftig verurteilt wurden, geltend zu machen. Hierdurch haben sich organisierte Verwertungsketten entwickelt. Spezialisierte Anwaltskanzleien wenden sich im Auftrag des Rechteinhabers mit Abmahnungen an die vermeintlichen Rechteverletzer. Eine repräsentative Umfrage von Infratest-dimap im Auftrag des Verbraucherzentrale Bundesverbandes ergab, dass rund 4,3 Millionen Bundesbürger bereits wegen vermeintlichen Urheberrechtsverstößen abgemahnt wurden.1 Die Kosten variieren in der Regel zwischen 500 und 1.000 Euro.
Diese Vorgehensweise ist mit Art. 8 der Richtlinie 2004/48/EG zur Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums unvereinbar, denn bei nun mehr als 4,3 Millionen abgemahnten Bundesbürgern lässt sich nicht mehr von Verhältnismäßigkeit sprechen. Im Gegenteil, eine Untersuchung von eco, dem Verband der deutschen Internetwirtschaft, ergab im Jahr 2011, dass die Anträge auf Auskunft über die mutmaßlichen Urheberrechtsverletzungen selten das Prinzip der Verhältnismäßigkeit wahren und deutsche Internet Provider pro Monat die Benutzerdaten zu 300.000 Internetverbindungen an die Rechteinhaber-Industrie geben.2 Der Vorsitzende Richter am Landgericht Köln erklärte, dass die Anzahl der von einem Antrag umfassten IP-Adressen von 15 bis zu 3500 schwanke. Im Oktober 2009 wurde sogar ein Fall bekannt, bei dem das Landgericht Köln mit einem einzigen Beschluss die Auskunft zu mehr als 11.000 IP-Adressen genehmigte.3 Dabei wird durch die Gerichte oftmals nicht der Einzelfall selbst geprüft sondern ausschließlich die Glaubhaftmachung der Ansprüche, wie wir im Bedarfsfall anhand von Einzelfällen belegen können (unwahre Rechtebehauptung, ungeprüft – LG Köln 2012).
Weiterhin verletzt dieses Geschäftsmuster Art. 48 (1) der Charta der Grundrechte der Europäischen Union. Zurzeit gilt generell, dass bei Erhalt einer Abmahnung die Beweislast bereits umgekehrt ist. Die vermeintlichen Rechteverletzer sehen sich gezwungen, Gegenbeweise zu liefern, um ihre Unschuld zu beweisen, wobei oft sogar Logdateien oder der Belege der Abwesenheit als Nachweis kaum genügen.
Eine derartige Einschränkung des Rechts auf Schutz der personenbezogenen Daten von tausenden Internetnutzern ist unverhältnismäßig und verletzt Art. 52 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, denn wir bezweifeln, dass der Europäische Gerichtshof der Auffassung sein würde, dass das Wirtschaftsmodell der spezialisierten Kanzleien „dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer“ tatsächlich entspricht.
Die Problematik ist der Politik schon länger bekannt. Schon 2007 versprach die damalige deutsche Justizministerin Brigitte Zypries ein Gesetz, das sicherstellen sollte, dass bei der „Verfolgung von Urheberrechtsverletzungen nicht über das Ziel hinausgeschossen wird“. Kurz vor Ende der aktuellen Legislaturperiode hat die Bundesregierung zwar nun mit dem „Gesetz zur Bekämpfung unseriöser Geschäftspraktiken“ einen Versuch unternommen, dem Treiben Einhalt zu gebieten. Aufgrund weiter Ausnahmeregelungen auch in diesem Gesetz gehen wir jedoch davon aus, dass sich mit der Gesetzesänderung zwar die Rechtslage verändern wird – eine Verbesserung für die Verbraucher jedoch kaum zu erwarten ist.
Daher appellieren wir an Sie, all Ihren Einfluss geltend zu machen und zu prüfen, ob in diesem Fall ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet werden muss. Wir bitten Sie zudem, uns Ihre Leitlinien und Kriterien für eine solche Evaluierung zukommen zu lassen.
Wir stehen Ihnen und ihren Mitarbeitern selbstverständlich für Rückfragen zur Verfügung und würden sich über einen Gesprächstermin freuen.
Mit freundlichen Grüßen
Markus Beckedahl
Vorstand des Digitale Gesellschaft e. V.
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