Die Empörung wäre wohl sehr groß, wenn die Bundesregierung plötzlich ankündigt, dass das Briefgeheimnis demnächst nicht nur gänzlich abgeschafft werden soll, sondern durch eine Verpflichtung von Post und Telekom ersetzt würde, sämtliche Briefe zu öffnen, den Inhalt zu prüfen und ggf. nicht zu versenden, sondern direkt an die Strafverfolgungsbehörden weiterzuleiten.
Undenkbar? Leider nicht: Denn da es sich nicht um Pläne der Bundesregierung, sondern der Europäischen Kommission handelt und auch nicht die analoge Post geöffnet, sondern sämtliche elektronische Kommunikation künftig durchleuchtet werden soll, handelt es sich nicht um einen dystopischen Alptraum, sondern um ein sehr konkretes Vorhaben: Voraussichtlich im Mai 2022 wird die zuständige Kommissarin Ylva Johannson den Entwurf einer Verordnung vorlegen, der eine solche Verpflichtung zur Chatkontrolle enthalten soll.
Hintergrund
Wie die Verordnung genau aussehen wird, ist noch nicht ganz klar. Vielleicht wird es eine allgemeine Verpflichtung geben, vielleicht soll sie nur angeordnet werden, wenn die Anbieter sich nicht „freiwillig“ verpflichten.
Klar ist jedenfalls, dass die Kommission insbesondere auf die verschlüsselte Kommunikation abzielt. Ende-zu-Ende-verschlüsselte Kommunikation entzieht sich bislang staatlicher Kontrolle, die Inhalte können auch vom Anbieter nicht eingesehen werden. Nach allem was bislang bekannt geworden ist, setzt die Kommission daher auf das sogenannte Client-Side-Scanning (CSS), bei dem die Kommunikationsinhalte direkt auf den Endgeräten der Nutzenden analysiert werden. Dadurch wird die Verschlüsselung nicht nur untergraben, auch wenn sie während des eigentlichen Sendevorgangs gewahrt bleibt, sondern es werden neue Sicherheitslücken und Angriffsstellen geschaffen. Das Gerät selbst wird zum potenziellen Überwachungsinstrument.
Die Analyse selbst kann dann auf verschiedene Arten erfolgen: Bei Bild- und Videodateien etwa über den Abgleich mit einer Datenbank mit Hashwerten bereits bekannter illegaler Inhalte. Oder aber durch das Analysieren von Text und Bilddateien durch trainierte Classifier, die nicht nur extrem fehler- sondern auch äußerst missbrauchsanfällig sind. Soweit bekannt, will sich die Kommission jedenfalls nicht auf den Abgleich von Video- und Bilddateien beschränken, sondern auch die Analyse von Textinhalten einbeziehen.
Die Bekämpfung der Verbreitung von Missbrauchsdarstellungen von Kindern, zu deren Zweck die konkrete Verordnung geplant ist, ist ein wichtiges und richtiges Anliegen. Doch der eingeschlagene Weg der Kommission mit seinem Fokus auf technische Systeme als vermeintliche Lösung komplexer sozialer Probleme, ist im Ansatz verfehlt. Im März 2022 ist bekannt geworden, dass die Bundesregierung es nicht als Aufgabe des BKA als „Zentralstelle für die Bekämpfung von Sexualdelikten zum Nachteil von Kindern und Jugendlichen“ ansieht, für die Löschung bekannt gewordener Inhalte zu sorgen und es daher zumeist unterlässt. Sie unterlässt dies, obwohl eine Löschung in fast allen Fällen ohne größeren Aufwand durch einfaches Melden an die Serveranbieter möglich wäre und längst klar ist, dass konsequentes Löschen der Inhalte die Verbreitung der Inhalte effektiv unterbindet.
Die massenhafte Überwachung der gesamten digitalen Kommunikation in Echtzeit aufgrund eines allgemeinen Generalverdachts stellt eine rote Linie dar, die in einer Gesellschaft nicht überschritten werden darf, die den Anspruch hat grundlegende Rechte zu garantieren. Verschlüsselte und sichere Kommunikation ist nicht nur Grundlage für politischen Aktivismus, für kritischen Journalismus, Whistleblowerschutz und Anwältinnen- und Ärztegeheimnis sondern für jede vertrauliche und intime Kommunikation und das Leben in einer demokratischen Gesellschaft.
Die Europäische Union hat bereits sehr deutlich gemacht, dass die Bekämpfung von Missbrauchsdarstellungen nur ein Bereich ist, in dem die neuen Überwachungs- und Kontrollinstrumente eingesetzt werden sollen: Schon im Jahr 2020 hat der Rat der Europäischen Union unter Federführung der deutschen Ratspräsidentschaft und dem seinerzeitigen Bundesinnenminister Seehofer eine Entschließung unter dem Titel „Sicherheit durch Verschlüsselung – Sicherheit trotz Verschlüsselung“ verabschiedet, in der „innovative Konzepte im Hinblick auf neue Technologien“ und der „aktive Dialog mit der Technologiebranche“ eingefordert wurden, „um Terrorismus, organisierte Kriminalität, sexuellen Missbrauch von Kindern (insbesondere dessen Online-Aspekte) sowie eine Vielzahl anderer Cyberstraftaten und durch den Cyberraum ermöglichter Straftaten wirksam zu bekämpfen.“ Und selbst die Überwachung von Dissidenz und politischer oder gesellschaftlicher Opposition ist angesichts zunehmend autoritärer Tendenzen in einigen Mitgliedsstaaten auch in Europa längst nicht mehr abwegig.
Nicht erst die angespannte Weltlage hätte auch der Europäischen Union vor Auge führen können, dass das Kompromittieren und Unterlaufen sicherer Kommunikation eine ganz schlechte Idee ist.
Kampagne
Wir werden uns allen Versuchen entschieden entgegen stellen, mittels Client-Side-Scanning und anderer „innovativer Konzepte“ die Kommunikation der gesamten Bevölkerung umfassend zu kontrollieren und verschlüsselte Kommunikation zu untergraben.
Briefgeheimnis wahren – Chatkontrolle stoppen!
Digitale Gesellschaft, April 2022