Nach dem mit Spannung erwarteten Urteilsspruch des Europäischen Gerichtshof (EuGH) zur Vorratsdatenspeicherungsrichtlinie streiten die politischen Akteure jeglicher Couleur nun über die Deutung der Entscheidung. Während Aktivisten und Opposition einen Sieg für die Grundrechte bejubeln, heben vor allem konservative Politiker hervor, dass die Richter nur die Richtlinie in ihrer gegenwärtigen Form, nicht hingegen die Vorratsdatenspeicherung als solche verworfen hätten.

Richtig ist, dass der Gerichtshof die anlasslose Speicherung der Kommunikationsdaten als besonders schwerwiegenden Eingriff in die EU-Grundrechte auf Privatssphäre und den Schutz personenbezogener Daten qualifiziert hat.  Zwar kamen die Richter zu dem Schluss, dass eine solche Datenbevorratung den Wesensgehalt der Grundrechte nicht tangiert und damit nicht a priori unzulässig ist. Zugleich stellten sie jedoch klar, dass die Richtlinie in ihrer aktuellen Fassung die Grundrechte der Menschen in Europa einer unverhältnismäßigen  Missbrauchsgefahr aussetzt und sie unter anderem deshalb keinen Bestand haben kann. Die Bedenken der Richter gingen dabei so weit, dass sie die Richtlinie entgegen des im Dezember vergangenen Jahres veröffentlichten Votums des Generalanwalts Cruz Villalon nicht nur aussetzten und eine Nachbesserung durch den EU-Gesetzgeber verlangten, sondern sie gänzlich für ungültig erklärten.

Dieses Detail der Entscheidung muss als ein deutliches Signal auch an den deutschen Gesetzgeber aufgefasst werden, das Vorhaben endgültig zu beerdigen. Mit der Aufhebung der Richtlinie entfällt zunächst die Pflicht der EU-Mitgliedsstaaten, die Vorratsdatenspeicherung auf nationaler Ebene einzuführen. Damit verliert die Bundesregierung ihren zentralen politischen Begründungsansatz für die gesetzliche Regelung einer anlasslosen Massenspeicherung der Verbindungsdaten. In einer ersten Stellungnahme gibt sich zudem auch die EU-Kommission bei der Frage einer Neuauflage der Richtlinie mit Blick auf das höchstrichterliche Votum und die laufenden Bemühungen um ein einheitliches europäisches Datenschutzniveau zögerlich. Das Urteil macht darüber hinaus auch deutlich, dass die Vorratsdatenspeicherung den Gesetzgeber unabhängig von ihrer konkreten Ausgestaltung stets an die Grenze des grundrechtlich Zulässigen führt. Indem sie die Richtlinie nicht nur aufgeschoben, sondern grundweg verworfen haben, haben die Richter dem Grundrechtsschutz klar den Vorrang gegenüber dem staatlichen Interesse an der Strafverfolgung eingeräumt. Vor diesem Hintergrund gleichwohl weiterhin die Einführung der Vorratsdatenspeicherung in Deutschland voranzutreiben, wie von einigen Unionspolitikern reflexartig gefordert, würde nicht nur den Geist der Entscheidung des EuGH verkennen, es würde auch eine Gleichgültigkeit gegenüber den Grundrechten demonstrieren, die der rechtsstaatlichen Kultur und der Verantwortung eines Verfassungsorgans nicht würdig ist.

Die Große Koalition hat nun die einmalige Gelegenheit, bei der Vorratsdatenspeicherung ihr Gesicht zu wahren und eine politische Kehrtwende einzuläuten. Dies ist nicht zuletzt deshalb sinnvoll, weil selbst im unwahrscheinlichen Fall eines erneuten Vorstoßes der Kommission völlig offen ist, welche Vorgaben eine neue Richtlinie den nationalen Gesetzgebern machen würde. Auch mit Blick auf den NSA-Untersuchungsausschuss und die laufenden Verhandlungen um die europäische Datenschutzgrundverordnung würde die Einführung der anlasslosen Massenspeicherung sämtlicher Verbindungsdaten die politische Glaubwürdigkeit der Bundesregierung empfindlich schmälern. Das heutige Urteil des EuGH muss die Große Koalition daher zu einem Umdenken veranlassen. Erste Ansätze dazu waren erfreulicherweise vor allem den Reaktionen aus den Reihen der SPD zu entnehmen. Nach der Entscheidung sei die im Koalitionsvertrag vereinbarte Grundlage für die Einführung der Vorratsdatenspeicherung entfallen, so der Tenor. Es ist richtig und essentiell wichtig, dass die Volksvertreter gerade in so gesamtgesellschaftlich bedeutsamen Fragen wie der Vorratsdatenspeicherung ihre verfassungsrechtliche Gewissensverpflichtung über parteipolitische Opportunität und Koalitionsdisziplin stellen. Wollen die Vorratsdatenspeicherungsgegner in den Reihen der SPD allerdings verhindern, dass ihr Protest lediglich von der eigenen Parteispitze als fadenscheiniger Profilierungsversuch verwertet wird und im Ergebnis als bloße symbolische Umarmung der Bürgerrechtler verpufft, müssen sie bis zu den Beratungen über einen Gesetzesentwurf nun aktiv ihren Einfluss bei Genossinnen und Genossen nutzen und ihnen vermitteln, dass ein Nein zur Vorratsdatenspeicherung eine Frage des politischen Gewissens ist.